Artikel

Der Fall Cutoff

Doktor Cutoff war ein kleiner, rundlicher Mann mit einem großen, runden Kopf und einem so beruhigenden Lächeln, dass manche, die auf seinem OP-Tisch lagen, schon vor der Narkose wegdämmerten. Wenn der Doktor also so etwas sagte wie "Ich werde Sie jetzt betäuben, um Ihnen in aller Ruhe dieses und jenes rausschneiden zu können", murmelten die Leute nur noch so etwas wie "Ach Gottchen, Doktor, stimmt ja, das kommt ja auch immer noch. Aber fangen Sie ruhig schon mal an."

Niemand, der Doktor Cutoff je gesehen hatte, konnte sich an sein Gesicht erinnern, und wenn, um ein Beispiel zu nennen, jemand von der Kriminalpolizei oder Interpol (Internetpolizei) fragte, wie alt der Doktor wohl sein mochte, so waren sich alle sicher, dass Cutoff über fünfunddreißig sein musste und noch keine sechzig war, aber alles dazwischen, ob sechsunddreißig oder neunundfünfzig, hätten sie für möglich gehalten. Die Kriminalpolizei und Interpol und das FBI notierten sich dann alles in Notizbüchern und Smartphones und wo man sich solche Informationen eben aufschrieb, aber so richtig zufrieden waren sie damit nicht, weil sie schon ahnten, dass an Doktor Cutoff etwas faul war, sie aber nicht gerade weiterkamen in der Angelegenheit. Also beobachteten sie den Doktor und machten sich noch mehr Notizen: "Unsteter, unberechenbarer Typ, der mal in seiner Praxis auftaucht, dann wieder nach Hause geht (oft an ein und demselben Tag), und zweimal im Jahr Urlaub macht." Es war klar, dass es unter diesen Umständen selbst modern ausgestatteten Expertinnen und Experten in Berufskleidung schwerfiel, etwas herauszukriegen.

Doktor Cutoff war ein Universal- und Initiativchirurg, der sich vieles selbst angeeignet hatte, Dokumente fälschen zum Beispiel. Cutoff wartete nicht, bis die Leute zu ihm kamen, sondern er rief sie an und sagte: "Ich habe eine gute Nachricht für Sie, ich habe morgen um halb zehn einen OP-Termin für Sie frei." (Das mit halb zehn war nur ein Beispiel.) Viele gaben dann an, sie bräuchten überhaupt keine OP, beziehungsweise hätten gar keine Hüfte oder Prostata, beziehungsweise sei da alles ganz in Ordnung. Cutoff aber erinnerte sie daran, dass sich das schon bald ganz anders verhalten könne, man sehe ja nicht in die Zukunft – dann aber der nächste Termin im Schnitt (!) erst wieder in drei Jahren frei werde. "Ich wiederhole: im Schnitt. Und ob Sie dann überhaupt noch eine OP brauchen, sei mal dahingestellt." So kundenorientiert sprach Cutoff immer, gleich, ob es um künstliche Gelenke ging oder Bauchspeicheldrüsen. Na ja, dachten die Leute. Na ja, na ja, na ja.

Wenn sie zu Cutoff kamen, brachten sie MRTs, CTs, Blut- und Ölgemälde mit. Der Doktor lächelte sein Lächeln, wies auf seinen Bildschirm und sagte, wenn es beispielsweise um eine Herz-OP ging: "Sehen Sie, das ist Ihr Herz. Es ist ein starkes Organ, und ich bin zuversichtlich, dass wir es retten können. Wir erweitern den Ductuskanal, verkleinern die Scusatilla und veröden den Strang, den Sie hier rechts sehen." Wenn die Leute den Strang nicht sahen, vergrößerte Cutoff ihnen das Bild, und das machte er so lange, bis es ihnen peinlich wurde, dass sie immer noch nichts erkannten und behaupteten, nun alles gesehen und verstanden zu haben. Donnerwetter, sagten sie. "Und hinterher geht es mir besser?" fragten sie aber noch, weil sie ja nicht wie ein Lamm auf dem Schemel vor dem Doktor im Ohrensessel sitzen wollten und er auch nicht den Eindruck haben sollte, man lasse sich jeden Quatsch verkaufen. "Logisch", sagte Cutoff, alles andere sei selten, und arbeiten dürfe man sowieso gleich wieder. "Dann mach ich es", sagten die Leute. Cutoff verwendete immer dasselbe Bild.

Alle zwei bis drei Jahre ließ der Doktor seinen Hausstand, seinen Praxisschreibtisch, seinen OP-Tisch und die Anästhesiemaske in einen Container packen und in eine andere Stadt verschiffen. Sobald alles angekommen war, nahm er das Schild an seiner alten Praxis ab, ein Flugzeug, und ließ das Schild an seine neue Praxis dranschnappen (Magnete hielten es, man konnte es bei Bedarf schnell wieder abnehmen). Cutoff kam ganz schön rum. Eines Jahres landete er in Montevideo, wo er Leute bei den richtigen Behörden kannte. Er rauchte mit ihnen im Schatten, privat, trug jetzt einen Hut und wusste immer gut Bescheid. "Wer erledigt eigentlich deine Buchhaltung?" fragten die Leute von der richtigen Behörde zu einer der Rauchgelegenheiten. "Mache ich selber", sagte Cutoff. "Ich brauche keine Sprechstundenhilfe. Aber irgendwann wird es so weit sein. Im Schnitt in drei Jahren. Kann ich mich eigentlich auch gleich um eine kümmern. Kennt ihr eine diskrete?"

Man empfahl Cutoff eine Frau Mueller, und er lud sie zu einem Vorstellungsgespräch ein. Gleich zu Beginn gratulierte er ihr zum Geburtstag, weil er Gelegenheit gehabt hatte, Blumen zu kaufen und gar nicht erst in die Verlegenheit kommen wollte, das Datum zu vergessen. "Herzlichen Dank, sehr aufmerksam, ich möchte eine Gehaltserhöhung", sagte Frau Mueller, und Doktor Cutoff gewann den Eindruck, dass sie sich verstanden. Am nächsten Morgen heirateten sie standesamtlich und kirchlich und ließen sich sofort wieder scheiden. Sie blieben sich aber gut und lebten gemeinsam in einem Haus in den Hügeln. Manchmal kauften sie Brot, obwohl noch eines zu Hause im Kasten lag, einfach, weil es passte und sie sich nicht damit herumschlagen wollten, wenn es nicht so wäre. Doktor Cutoff fühlte sich wohl mit Frau Mueller in Montevideo. Sie übernahm die Akquise, erledigte die Buchhaltung und legte das Geld in den Safe (das ganze). Den Rest erledigte der Doktor. Eine Weile schaukelten sie so sanft durch das Leben wie das Segelboot, mit dem sie bei Sonne raus auf den Atlantik fuhren. Das war, wenn es vor Anker lag und das Meer nur ein bisschen hin und her schwappte.

Meistens segelten sie zu einer Insel, um ein wenig zu tauchen und zu harpunieren. Sie belegten sich dann Brote, bügelten die Neoprenanzüge und packten sich warme Badekleidung ein. An einem hellen, freundlichen Samstag im Februar stachen sie wieder einmal in See. Kleiner und kleiner wurde Montevideo, das Meer erst immer größer, dann blieb es gleich groß. Weit oben am Himmel zog lautlos eine Linienmaschine ihre Bahn. Frau Muellers Mobiltelefon brummte. "Hallo?" Cutoff hörte eine männliche Stimme aus dem Apparat dringen, und dringlich schien die ganze Angelegenheit zu sein – Frau Mueller sagte nur noch "Aha!" und: "Ich verstehe." Nach dem Gespräch zog sie ein trauriges Gesicht.
"Wer war das?" fragte Cutoff.
"Die Friedhofsverwaltung", log sie.
"Und was wollten die?"
"Sie hätten einen Platz für dich frei, aber nur noch heute."
Cutoff nickte. "Nimm die Harpune."
"Deine oder meine?"
"Meine. Sie liegen hinten in der Kiste."
Frau Mueller machte sich an der bezeichneten Kiste zu schaffen. "Da ist sie aber nicht. Ach doch, da ist sie ja. Wo willst du stehen?"
Cutoff nahm am Steuerrad Aufstellung. "Meinst du, du schaffst es, hindurchzuschießen?"
"Bekomme ich hin."
"Du bist Spezialistin, oder? FBI?"
"Nein, Interpol. Bereust du deine Operationen, Dr. Cutoff?"
Cutoff lächelte sein Lächeln. "Siehst du, es ist so: Ich habe nie jemandem irgendetwas jemals herausgeschnitten. Ich habe die Leute betäubt, sie sind wieder aufgewacht, und alle fühlten sich wohl. Wirst du meine Praxis weiterführen?"
Sie versprach es.

Gunnar Homann

Aktuelle Startcartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Ziemlich beunruhigt, Benjamin Jendro,

lässt uns Ihr vielzitiertes Statement zur Verhaftung des ehemaligen RAF-Mitglieds Daniela Klette zurück. Zu dem beeindruckenden Ermittlungserfolg erklärten Sie als Sprecher der Gewerkschaft der Polizei: »Dass sich die Gesuchte in Kreuzberg aufhielt, ist ein weiterer Beleg dafür, dass Berlin nach wie vor eine Hochburg für eine gut vernetzte, bundesweit und global agierende linksextreme Szene ist.«

Auch wir, Jendro, erkennen die Zeichen der Zeit. Spätestens seit die linken Schreihälse zu Hunderttausenden auf die Straße gehen, ist klar: Die bolschewistische Weltrevolution steht im Grunde kurz bevor. Umso wichtiger also, dass Ihre Kolleg/innen dagegenhalten und sich ihrerseits fleißig in Chatgruppen mit Gleichgesinnten vernetzen.

Bei diesem Gedanken schon zuversichtlicher: Titanic

 Waidmannsheil, »Spiegel«!

»Europas verzweifelte Jagd nach Munition«, titeltest Du, und doch könnte es deutlich schlimmer sein. Jagd auf Munition – das wäre, so ganz ohne diese Munition, deutlich schwieriger!

Nimmt Dich gerne aufs Korn: Titanic

 Apropos: ¡Hola bzw. holla, spanischer Priester!

Du hast Dir die Worte aus dem Matthäusevangelium »Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach« zu sehr zu Herzen genommen und in Deiner Gemeinde in der Kleinstadt Don Benito einen regen Handel mit Potenzmitteln betrieben. Für diesen nach weltlichem Ermessen offensichtlichen Sündenfall musst Du Dich nun vor einem irdischen Gericht verantworten.

Uns ist zwar nicht bekannt, ob Du Dich gegenüber Polizei und Justiz bereits bußfertig gegeben hast oder weiterhin auf das Beichtgeheimnis berufst. Angesichts der laut Zeugenaussagen freudigen Erregung Deiner überalterten Gemeindemitglieder beim Geläut der Glocken sowie ihres Durchhaltevermögens bei den nicht enden wollenden Eucharistiefeiern inklusive Rumgeorgel, Stoßgebeten und orgiastischer Gottesanrufungen sprechen alle Indizien aber ohnehin gegen Dich!

Bleibt auch ganz ohne künstliche Stimulanzien weiter standfest im Nichtglauben: Titanic

 Erwischt, Bischofskonferenz!

In Spanien haben sich Kriminelle als hochrangige Geistliche ausgegeben und mithilfe künstlicher Intelligenz die Stimmen bekannter Bischöfe, Generalvikare und Priester nachgeahmt. Einige Ordensfrauen fielen auf den Trick herein und überwiesen auf Bitten der Betrüger/innen hohe Geldbeträge.

In einer Mitteilung an alle kirchlichen Institutionen warntest Du nun vor dieser Variante des Enkeltricks: »Äußerste Vorsicht ist geboten. Die Diözesen verlangen kein Geld – oder zumindest tun sie es nicht auf diese Weise.« Bon, Bischofskonferenz, aber weißt Du, wie der Enkeltrick weitergeht? Genau: Betrüger/innen geben sich als Bischofskonferenz aus, raten zur Vorsicht und fordern kurz darauf selbst zur Geldüberweisung auf!

Hat Dich sofort durchschaut: Titanic

 Also wirklich, »Spiegel«!

Bei kleinen Rechtschreibfehlern drücken wir ja ein Auge zu, aber wenn Du schreibst: »Der selbst ernannte Anarchokapitalist Javier Milei übt eine seltsame Faszination auf deutsche Liberale aus. Dabei macht der Rechtspopulist keinen Hehl daraus, dass er sich mit der Demokratie nur arrangiert«, obwohl es korrekt heißen müsste: »Weil der Rechtspopulist keinen Hehl daraus macht, dass er sich mit der Demokratie nur arrangiert«, müssen wir es doch anmerken.

Fasziniert von so viel Naivität gegenüber deutschen Liberalen zeigt sich

Deine Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Kehrwoche kompakt

Beim Frühjahrsputz verfahre ich gemäß dem Motto »quick and dirty«.

Michael Höfler

 Frühlingsgefühle

Wenn am Himmel Vögel flattern,
wenn in Parks Familien schnattern,
wenn Paare sich mit Zunge küssen,
weil sie das im Frühling müssen,
wenn überall Narzissen blühen,
selbst Zyniker vor Frohsinn glühen,
Schwalben »Coco Jamboo« singen
und Senioren Seilchen springen,
sehne ich mich derbst
nach Herbst.

Ella Carina Werner

 Wenn beim Delegieren

schon wieder was schiefgeht, bin ich mit meinen Lakaien am Ende.

Fabio Kühnemuth

 Die Touri-Falle

Beim Schlendern durchs Kölner Zentrum entdeckte ich neulich an einem Drehständer den offenbar letzten Schrei in rheinischen Souvenirläden: schwarzweiße Frühstücks-Platzmatten mit laminierten Fotos der nach zahllosen Luftangriffen in Schutt und Asche liegenden Domstadt. Auch mein Hirn wurde augenblicklich mit Fragen bombardiert. Wer ist bitte schön so morbid, dass er sich vom Anblick in den Fluss kollabierter Brücken, qualmender Kirchenruinen und pulverisierter Wohnviertel einen morgendlichen Frischekick erhofft? Wer will 365 Mal im Jahr bei Caffè Latte und Croissants an die Schrecken des Zweiten Weltkriegs erinnert werden und nimmt die abwischbaren Zeitzeugen dafür sogar noch mit in den Urlaub? Um die Bahn nicht zu verpassen, sah ich mich genötigt, die Grübelei zu verschieben, und ließ mir kurzerhand alle zehn Motive zum Vorteilspreis von nur 300 Euro einpacken. Seitdem starre ich jeden Tag wie gebannt auf das dem Erdboden gleichgemachte Köln, während ich mein Müsli in mich hineinschaufle und dabei das unheimliche Gefühl nicht loswerde, ich würde krachend auf Trümmern herumkauen. Das Rätsel um die Zielgruppe bleibt indes weiter ungelöst. Auf die Frage »Welcher dämliche Idiot kauft sich so eine Scheiße?« habe ich nämlich immer noch keine Antwort gefunden.

Patric Hemgesberg

 Teigiger Selfcaretipp

Wenn du etwas wirklich liebst, lass es gehen. Zum Beispiel dich selbst.

Sebastian Maschuw

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

Titanic unterwegs
18.04.2024 Berlin, Heimathafen Neukölln Max Goldt
18.04.2024 Hamburg, Centralkomitee Ella Carina Werner
19.04.2024 Wuppertal, Börse Hauck & Bauer
20.04.2024 Eberswalde, Märchenvilla Max Goldt