Inhalt der Printausgabe

Bumspartys im Bohrturm

von Ella Carina Werner

Kürzlich wartete ich am Bahnhof Hamburg-Harburg und beobachtete einen Trupp blutjunger Backpacker*innen. Sie standen auf dem Bahnsteig und gackerten, bogen ihre kraftstrotzenden Leiber vor Gelächter, aus dem ich die folgenden Worte heraushörte: »Shit, we meant to go to France, the most beautiful country in Europe – and now we ended up here, hahahahahaha!«

Ich hingegen war diesen Sommer tatsächlich in Frankreich und kann sagen, so schön war es auch wieder nicht. Die Rede ist von Nordfrankreich, genauer: der Picardie. Ach, ach, die malerische Picardie! Auf handcolorierten Postkarten der Belle Époque sieht man herrlich hutzlige Dörfer, die zwischen Ginster und Glyzinien hervorlugen. Doch wo einstmals hübsche Fachwerkhäuschen standen, ist heute nichts als Ödnis. Péronne – zerstört. Craonne – zermalmt. Rancourt – in jahrelangen Stellungskriegen von der Landkarte getilgt, und zwar von meinen Vorfahren im »Grande Guerre«. Ehe wenig später, im »Plus Grande Guerre« oder wie man in Frankreich dazu sagt, die Wehrmacht ein weiteres Mal über jede Ortschaft drübergebrettert ist. Als Nachfahrin schlich ich gesenkten Hauptes durch die picardische Szenerie, vorbei an Mahnmalen, Gedenkstätten, Soldatenfriedhöfen und hier und dort einem maroden Kneipenschild. »La Bourse aux Grains« stand darauf oder »La Belbancale«, was wohl »Zur deutschen Verwüstung« heißt oder »Hier war es mal schön«. Und dass sämtliche Picardier*innen mir gegenüber derart gastfreundlich waren, machte es keinen Deut besser. Als mich im Käseladen ein altes Mütterchen anstrahlte: »Allemande? Je t’aime ton Hüttenkäse!«, wäre ich gerne vor Scham im Erdboden versunken, wäre dort nicht alles voller Minen und unterirdischer Bunkerreste gewesen. In zwei Urlaubswochen ließ ich mich absichtlich von Taxifahrern behumpsen, geißelte mich vor seelenlosen Neubauten und ertränkte meine Schuldgefühle in literweise Pastis, doch alles für die Katz: Statt der Seele baumelte Demut, Selbstanklage, Gewissensnot bis zum Morgengrauen. Und in früheren Reisen durch Polen, Griechenland oder Belgien war es beileibe nicht besser.
Deshalb die eine große Frage, die jede*n Weltenbummler*in deutscher Herkunft wohl brennend interessiert: Gibt es Urlaubsdestinationen, in denen die eigenen Leute nicht gemordet, Kulturschätze gemaust, Seuchen eingeschleppt oder nervtötend herummissioniert haben? Existieren lauschige Eldorados, ja liebliche Ländereien, in denen man sonnenbaden kann und saufen ohne Reue, auf den Poolliegen masturbieren, Hotelpuschen klauen, über Labberbrötchen nölen und in Sakralbauten laut schwätzen ohne Wenn und Aber? Ja, kann man denn als Deutsche*r noch irgendwo reinen Gewissens hin?

Man kann. Mithilfe von Google Earth, Wikipedia und meinem Diercke Weltatlas von 1984 habe ich in nächtelanger Recherchearbeit sämtliche möglichen Reiseziele zusammengetragen. Es sind fünf.

Fragen sich Erdkunde-Professor*innen seit hundert Jahren: Wo kann man als Deutsche*r noch hin?


Weyakwin, Kanada

Die perfekte Urlaubsregion! Keine preußischen Farmer*innen, kein Kunstraub, kein Kreuzzug, kein Lidl und nicht die kleinste deutsche Kriegsverstrickung, zumindest nicht vor Ort. Weyakwin ist mit seinen 1500 Einwohner*innen ein beschaulicher, stinklangweiliger Unort irgendwo im mittleren Norden, keine 2000 Kilometer von den nächsten Sandstränden Vancouvers entfernt. Über Deutschland haben die Einwohner*innen hier und da mal was gehört. Und alles sofort wieder vergessen. Super. Sie wissen nicht, wer die »Blechtrommel« geschrieben hat. Sie wissen nicht, wer Frank Thelen ist, wie Hüttenkäse schmeckt oder dass Marco Buschmann als Schulbub mal Marxist war. In der Gemeindebücherei findet sich kein einziger scheiße ins Englische übersetzte Böll oder »100 most boring German poems«. Die Weyakwiner*innen haben noch nie mit einer deutschen Person gesprochen und haben dies auch nicht vor. Die Schlüssel der einzigen Ferienwohnung befinden sich im Schlüsselsafe unter dem Balkon.

Càrn beag uaigneach, Schottland

Wen es weniger in die Ferne zieht, der besucht dieses beschauliche Eiland kurz hinter dem schottischen Festland, auf der noch nie ein*e Deutsche*r war, ein anderes Säugetier allerdings auch nicht. Inselglück vom Feinsten: Ausflügler*innen können splitternackt den 46 Quadratmeter großen Felshaufen mit unverbautem Meerblick entlang gockeln, gedankenschwer über die Insel stapfen wie Lars Eidinger in »Alle anderen« über Sardinien und abends alles großmäulig ins Tagebuch schreiben mit dem Blut geschossener Krähenscharben, die hier, craww craww craww, überall herumschwirren, alternativ auch einen Reisebericht von Humboldtscher Wucht verfassen oder ein stimmungsvolles Meinungsstück für Geo Saison. Brötchen gibt es keine.

Stena Don, Nordsee

Und noch eine Insel. Kein Wunder, sind diese Art Landmassen immer schon ein Tickchen unzugänglicher und autonomer, so blütenrein und unbefleckt wie die Britischen Jungferninseln. Was ein schlechtes Beispiel ist, da dort Seuchen und Kriege wie nichts Gutes grassierten. Ein herrliches Paradebeispiel hingegen sind Bohrinseln, die fast alle nach 1970 erbaut wurden. Die schönste und beliebteste heißt Stena Don, Offshore-Paradies No. 1. Im Jahr 2001 errichtet, handelt es sich um einen Ort ganz ohne Geschichte, genau wie Dänemark. Die einzigen finsteren Deutschen, von denen man hier schon mal gehört hat, sind Franziska Giffey und dieser eine cholerische, nach Mentholzigaretten und Ehrgeiz stinkende Tiefbauingenieur Manfred Teigert aus 26931 Elsfleth, mit dem niemand mehr eine Kabine teilen will. Ansonsten kommt man mit den liebenswerten, leicht verwahrlosten Bohrinsulanern mithilfe internationaler Kreolsprachen sowie reichlich Apfelkorn ganz wunderbar ins Gespräch. Auch an Komfort ist kein Mangel. Es gibt TV-Geräte mit Kabelanschluss, Boule-Spiel auf dem Hubschrauberlandeplatz, eine Eckkneipe, die »Exx on Hopp« oder »Shells Bells« heißt, und jeden zweiten Dienstag eine Bumsparty im Bohrturm, dass die Stimmung schon mal überkocht wie in München-Schwabing oder auf dem Clubschiff Aida. Und wirklich, es ist wie eine Kreuzfahrt, nur ohne Krimi-Dinner mit dem Kapitän.

Mars, Südseite

Spuren von Deutschen werden Sie hier ganz sicher keine finden, dafür haufenweise Einheimische von eher kleiner, schmächtiger Statur. Mikroben sind gemeinhin freundlich und gastfreundlich, aber, aufgepasst, neugierig ohne Ende. Interkulturell interessiert, haben sie tausend freche Fragen, während sie die Urlauber*innen mit ihren Schlabbershorts und winzigen Samtkappen umringen: Ob es in der Heimat denn Waschmaschinen gibt und die Steckdosen zwei oder drei Löcher haben? Ob es Weltkriege gibt oder das lustige Konzept der Monogamie? Das Gute: Reisende können über ihr Heimatland alles zurechtfabulieren, von Pazifismus, begeisterten Backpacker-Horden, Infinity-Pools sowie verträumten Marktgemeinden, die denen der guten, alten Picardie in nichts nachstehen. Oder einfach von Finnland erzählen, denn Finnland hat in Europa die beste Täter-Opfer-Bilanz. Achtung, Mars-Mikroben sind gute Geschäftsleute, mit beinahe hypnotischem Singsang bieten sie alles feil: mit Kunstfedern besetzte Karnevalsmasken, rote Vulkane in Schneekugeln, rote Vulkane an Schlüsselanhängern, rote Vulkane als Kühlschrankmagneten sowie rote Vulkane auf blinkenden Leuchtschildern über den (überraschend guten) Nachtclubs, ehe sie die leichtgläubigen Gäste in überteuerte Mikroappartements locken, bestückt mit viel zu kurzen Betten. Obacht: hohe Hütchenspieler-Dichte.

Schweiz

Es mag für manchen Globetrotter überraschend klingen: Auch in der Schweiz kann man reinen Gewissens urlauben, herumnölen und saufen, als gäb’s kein Morgen. Zwar besetzen die »Preußen« tatsächlich zahllose Jobs und Wohnungen, stinken, onanieren in den Großraumbüros und scheißen bei der »Art Basel« die wenigen Klos voll. Und der seit zwanzig Jahren tobende Fluglärmkrieg zwischen Deutschland und der Schweiz macht es auch nicht besser. Aber – und das ist wichtig, das ist das Gute – die Schweizer*innen verachten alles Deutsche noch viel mehr als angemessen, ja weit über das faire Maß hinaus, und das ist am Ende auch wieder eine entspannte Sache. 

Auch nicht frei von Skrupeln: Rheinländerin am Strand von Miami Beach.

Vor wenigen Tagen stand ich wieder mal am Bahnhof Hamburg-Harburg herum. Ich kam mit einer älteren Dame im blassblauen Wollmantel ins Gespräch. Wir sprachen über das, worüber man in Harburg am liebsten spricht: übers Wegfahren. Die silberhaarige Alte seufzte und sagte, die einzigen europäischen Länder, in die man eigentlich noch reisen, ja in denen man sich wirklich noch wohl und sicher fühlen könne, seien – und dabei hob sie drei perlmuttweiß lackierte Fingernägel in die herbstliche Luft – Österreich, Ungarn und Italien. Seither grüble ich, wo hier der Zusammenhang ist. Wenn Sie es wissen, dann schreiben Sie mir bitte nicht an e.werner@titanic-magazin.de.

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Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Apropos: ¡Hola bzw. holla, spanischer Priester!

Du hast Dir die Worte aus dem Matthäusevangelium »Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach« zu sehr zu Herzen genommen und in Deiner Gemeinde in der Kleinstadt Don Benito einen regen Handel mit Potenzmitteln betrieben. Für diesen nach weltlichem Ermessen offensichtlichen Sündenfall musst Du Dich nun vor einem irdischen Gericht verantworten.

Uns ist zwar nicht bekannt, ob Du Dich gegenüber Polizei und Justiz bereits bußfertig gegeben hast oder weiterhin auf das Beichtgeheimnis berufst. Angesichts der laut Zeugenaussagen freudigen Erregung Deiner überalterten Gemeindemitglieder beim Geläut der Glocken sowie ihres Durchhaltevermögens bei den nicht enden wollenden Eucharistiefeiern inklusive Rumgeorgel, Stoßgebeten und orgiastischer Gottesanrufungen sprechen alle Indizien aber ohnehin gegen Dich!

Bleibt auch ganz ohne künstliche Stimulanzien weiter standfest im Nichtglauben: Titanic

 Vielleicht, Ministerpräsident Markus Söder,

sollten Sie noch einmal gründlich über Ihren Plan nachdenken, eine Magnetschwebebahn in Nürnberg zu bauen.

Sie und wir wissen, dass niemand dieses vermeintliche High-Tech-Wunder zwischen Messe und Krankenhaus braucht. Außer eben Ihre Spezln bei der Baufirma, die das Ding entwickelt und Ihnen schmackhaft gemacht haben, auf dass wieder einmal Millionen an Steuergeld in den privaten Taschen der CSU-Kamarilla verschwinden.

Ihr Argument für das Projekt lautet: »Was in China läuft, kann bei uns nicht verkehrt sein, was die Infrastruktur betrifft.« Aber, Söder, sind Sie sicher, dass Sie wollen, dass es in Deutschland wie in China läuft? Sie wissen schon, dass es dort mal passieren kann, dass Politiker/innen, denen Korruption vorgeworfen wird, plötzlich aus der Öffentlichkeit verschwinden?

Gibt zu bedenken: Titanic

 Erwischt, Bischofskonferenz!

In Spanien haben sich Kriminelle als hochrangige Geistliche ausgegeben und mithilfe künstlicher Intelligenz die Stimmen bekannter Bischöfe, Generalvikare und Priester nachgeahmt. Einige Ordensfrauen fielen auf den Trick herein und überwiesen auf Bitten der Betrüger/innen hohe Geldbeträge.

In einer Mitteilung an alle kirchlichen Institutionen warntest Du nun vor dieser Variante des Enkeltricks: »Äußerste Vorsicht ist geboten. Die Diözesen verlangen kein Geld – oder zumindest tun sie es nicht auf diese Weise.« Bon, Bischofskonferenz, aber weißt Du, wie der Enkeltrick weitergeht? Genau: Betrüger/innen geben sich als Bischofskonferenz aus, raten zur Vorsicht und fordern kurz darauf selbst zur Geldüberweisung auf!

Hat Dich sofort durchschaut: Titanic

 Eine Frage, Miriam Meckel …

Im Spiegel-Interview sprechen Sie über mögliche Auswirkungen künstlicher Intelligenz auf die Arbeitswelt. Auf die Frage, ob die Leute in Zukunft noch ihr Leben lang im gleichen Beruf arbeiten werden, antworten Sie: »Das ist ja heute schon eher die Ausnahme. Ich zum Beispiel habe als Journalistin angefangen. Jetzt bin ich Professorin und Unternehmerin. Ich finde das toll, ich liebe die Abwechslung.« Ja, manchmal braucht es einfach einen beruflichen Tapetenwechsel, zum Beispiel vom Journalismus in den Fachbereich Professorin! Aber gibt es auch Berufe, die trotz KI Bestand haben werden? »Klempner zum Beispiel. Es gibt bislang keinen Roboter mit noch so ausgefeilter KI auf der Welt, der Klos reparieren kann.«

Das mag sein, Meckel. Aber was, wenn die Klempner/innen irgendwann keine Lust mehr auf den Handwerkeralltag haben und flugs eine Umschulung zum Professor machen? Wer repariert dann die Klos? Sie?

Bittet jetzt schon mal um einen Termin: Titanic

 Dear Weltgeist,

das hast Du hübsch und humorvoll eingerichtet, wie Du an der Uni Jena Deiner dortigen Erfindung gedenkst! Und auch des Verhältnisses von Herr und Knecht, über das Hegel ebenfalls ungefähr zur Zeit Deiner Entstehung sinnierte. Denn was machst Du um die 200 Jahre später, lieber Weltgeist? Richtest an Deiner Alma Mater ein Master-Service-Zentrum ein. Coole Socke!

Meisterhafte Grüße von Deiner Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Dünnes Eis

Zwei Männer in Funktionsjacken draußen vor den Gemüsestiegen des türkischen Supermarkts. Der eine zeigt auf die Peperoni und kichert: »Hähä, willst du die nicht kaufen?« Der andere, begeistert: »Ja, hähä! Wenn der Esel dich juckt – oder nee, wie heißt noch mal der Spruch?«

Mark-Stefan Tietze

 Einmal und nie wieder

Kugelfisch wurde falsch zubereitet. Das war definitiv meine letzte Bestellung.

Fabian Lichter

 Pendlerpauschale

Meine Fahrt zur Arbeit führt mich täglich an der Frankfurt School of Finance & Management vorbei. Dass ich letztens einen Studenten beim Aussteigen an der dortigen Bushaltestelle mit Blick auf sein I-Phone laut habe fluchen hören: »Scheiße, nur noch 9 Prozent!« hat mich nachdenklich gemacht. Vielleicht wäre meine eigene Zinsstrategie selbst bei angehenden Investmentbankern besser aufgehoben.

Daniel Sibbe

 Frühlingsgefühle

Wenn am Himmel Vögel flattern,
wenn in Parks Familien schnattern,
wenn Paare sich mit Zunge küssen,
weil sie das im Frühling müssen,
wenn überall Narzissen blühen,
selbst Zyniker vor Frohsinn glühen,
Schwalben »Coco Jamboo« singen
und Senioren Seilchen springen,
sehne ich mich derbst
nach Herbst.

Ella Carina Werner

 Wenn beim Delegieren

schon wieder was schiefgeht, bin ich mit meinen Lakaien am Ende.

Fabio Kühnemuth

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

Titanic unterwegs
25.04.2024 Köln, Comedia Max Goldt
27.04.2024 Schwerin, Zenit Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
28.04.2024 Lübeck, Kolosseum Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
29.04.2024 Berlin, Berliner Ensemble Martin Sonneborn mit Sibylle Berg