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10 000 Jahre gepflegte Langeweile
Ein Gastbeitrag von "Kicker"-Kolumnist Daniel Sibbe
Der FC Bayern hat zum zehnten Mal in Folge die Schale nach München geholt. Na, herzlichen Glückwunsch! Oder, um in der Sprache unserer fußball-, sprich: FIFA-22-begeisterten A-Jugend zu bleiben: "Boah, wie laaaaaame!" Was vor einigen Jahren noch als geflügeltes Wort galt, wenn man vor der Glotze kurz eingenickt war und bei "Hart aber fair" oder dem ZDF-Politbarometer wieder wach wurde, trifft heute vollumfänglich auf jedes abgeschlossene Sky-Sport- oder DAZN-Abo zu. Zehnjährige im Jahr 2022 haben in ihrem Leben bereits zwei Bundeskanzler erlebt – ganz zu schweigen von den vier CDU- und zehn SPD-Vorsitzenden –, aber nur einen deutschen Fußballmeister. Jede Klassensprecherwahl in der Grundschule verspricht mittlerweile mehr Spektakel als das alljährliche Titelrennen in der höchsten deutschen Spielklasse. Doch eine Wachablösung an der ewigen Tabellenspitze der Fußball-Bundesliga ist auf Dauer nicht in Sicht, wie die in der Schublade des vielbeschworenen und -zitierten Fußballgottes liegenden und unlängst auf Football Leaks veröffentlichten Zukunftsszenarien verdeutlichen:
In der kommenden Saison 2022/23 können sich die Bayern nach einer bis dato wenig erwärmenden Hinrunde dank der Winter-WM in Katar wieder akklimatisieren. Unmittelbar nach dem Finale im Lusail Iconic Stadium wird das für die Frischluftzufuhr auf dem Spielfeld zuständige Kühlungssystem nebst der Verkleidung mit den Austrittsöffnungen demontiert. Mit ihrem Sponsor Qatar Airways lässt der Verein die gesamte Konstruktion nach München fliegen und von preußischen Arbeitsmigranten in die Allianz Arena einbauen. Fortan wird bei jedem Heimspiel warmer Föhnwind ins Stadion geblasen. Die Gastmannschaften klagen über müde Beine und lassen sich 90 Minuten lang schwindelig spielen. Erneut macht der Mythos vom "Bayern-Dusel" die Runde. Der FC Bayern triumphiert vor heimischem Publikum zuverlässig zweistellig und feiert am Ende der Saison ungefährdet die insgesamt 33. deutsche Meisterschaft. Auch in der nachfolgenden Spielzeit 2023/24 geht der Titel an die Zehn von Trainer Julian Nagelsmann. Jawohl, richtig gelesen! Um die Spannung hochzuhalten, verzichten die Münchner inzwischen auf den Einsatz eines Torhüters.
Nach sieben weiteren Meisterschaften folgt bei der Auftaktbegegnung der Saison 2031/32 in der Arena auf Schalke eine unnötige Niederlage. Die Knappen siegen nach einem Spiel auf ein leeres Tor mit 1:0 durch Goalgetter Jamal Musiala (90.+3/Eigentor). Um den nächsten Titelgewinn nicht zu gefährden, rät der langjährige Vereinsopatriarch Uli Hoeneß zu einem altbewährten Mittel: Spendier- statt Lederhosen! Die Bayern kaufen die ganze Liga kaputt. Zwar ist dadurch die drohende Insolvenzwelle vieler Clubs vorerst abgewendet. Dafür klafft in den Bundesliga-Stadien nun anstelle der Rasenspielfläche ein umso größeres Loch. Das Aufrechterhalten eines regulären Ligabetriebs ist nur möglich, indem alle Partien in der Allianz Arena ausgetragen werden. Als Ausweichspielstätte dient der von der FC Bayern München AG erworbene und in "Mingasdorfer Stadion" umbenannte Fußballtempel in Köln. Mit einer makellosen Heimbilanz und nur einer Auswärtsniederlage holen sich die Bayern die 20. Meisterschaft nacheinander. 34 gewonnene Spiele, 541:0 Tore, 2174 Kilometer Laufleistung sowie 938 Sprints pro Match. Im 50. Meisterschaftsjubiläum 2039/40 spielen die Bayern wieder unter Pep. "Stimmt doch gar nicht!" echauffiert sich Noch-Trainer Julian Nagelsmann mit weit aufgerissenen Augen im Aktuellen Sport Studio, in dem er während eines dreistündigen Interview-Monologs unablässig gegen die Torwand ballert: "Auf Pep!" Die Anti-Doping-Kommission des DFB verzichtet jedoch auf eine nachträgliche Annullierung des Titels. Öffentliche Outings jeder Art werden in der Männer-Domäne des Profi-Fußballs nach wie vor nicht geduldet.
Eine Rebellion der Ballschussmaschinen führt Ende des 21. Jahrhunderts in ganz Fußball-Deutschland zu einem Systemwechsel. Die kickende Belegschaft des Rekordmeisters sieht sich auf dem Feld plötzlich mit einer künstlichen Spielintelligenz konfrontiert. Statt Offensivpower ist in der Saison 2097/98 gegen die Teams von Roborussia Mönchengladbach und dem Blechdosenclub aus Leipzig erst einmal Abwehrschlacht angesagt. Dank einer taktischen Glanzleistung und ihrer überragenden Technik gelingt es den Bayern in der Rückrunde, die feindlichen Mittelfeldmotoren auszuschalten. Die Roten verhindern einen Machtwechsel im deutschen Fußball und gewinnen ihre 76. nationale Meisterschaft in Serie. Neuverpflichtung John Connor sichert sich die Terminatorjägerkanone. Ein paar Jahrhunderte später bekommen die Münchner ein Sponsorenproblem. Die unzähligen Meistersterne verdrängen auf den futuristischen Hi-Tech-Trikots allmählich die Hologrammprojektionen der Werbepartner. Die Marketingabteilung beschließt daher, die Kennzeichnung für die errungenen Erfolge direkt auf die Haut der in den vereinseigenen Nachwuchszentren in einer Nährlösung aus Haargel und Tätowierfarbe hochgezüchteten Jungprofis zu implementieren. Mit dem Gewinn der deutschen Meisterschaft 2914/15 machen die Bayern-Stars ihrem Namen einmal mehr alle Ehre.
Atomkrieg, Alien-Invasion, zweiter Atomkrieg und der Rückzug der Menschheit ins Metaversum – all das prallt über Äonen an den Algorithmen der digitalisierten Vereins-DNA einfach ab. "Mia san mia" heißt es an der Säbener Straße auch in der binären Saison 10100011000101/10100011000110. Spieler und Funktionäre recken zum nunmehr 8426. Mal ohne Unterbrechung die Meisterschale in den virtuellen Münchner Himmel. Dennoch fiebern Millionen Fußballfans schon der neuen Spielrunde in Neuland entgegen. Dauerrivale Borussia Dortmund hat angekündigt, in der kommenden Bundesliga-Saison ganz vorne angreifen zu wollen – diesmal aber wirklich!
Über den Autor: Der ehemalige Bundesliga-Profizuschauer Daniel Sibbe ist heute als Spielerberater seines 8-jährigen Sohnes in der G-Jugend tätig ("Ich rate dir, bloß das Tor nicht zu verfehlen, Bürschchen, sonst versohl' ich dir gleich hier noch mitten auf dem Platz vor allen Leuten den Arsch!"). Selber trifft er allerdings aus 3 Meter Entfernung keinen Möbelwagen. Gleiches gilt leider auch für seine Pointen.