Humorkritik | September 2024

September 2024

»Ich finde es erheiternd, dass wir alle keine Ahnung haben, Erklärungsversuche machen, an höhere Gesetze glauben, eine Religion suchen. Einen Sinn, einen Halt, in diesem Furz von absurdem Leben.«
Sibylle Berg

Göttliche Komödie

Kürzlich las ich in einem Zeitungsartikel über den 95jährigen Biochemiker Prof. Heinrich Matthaei, der maßgeblich an der Entzifferung des genetischen Codes beteiligt war, angeblich knapp am Nobelpreis vorbeigeschrammt und von der Existenz Gottes überzeugt ist. Und zwar könne Letzterer nicht nur »physikalisch als Schwingung erfasst werden«, man könne sogar per Wünschelrute mit ihm kommunizieren: »Gott gibt dreierlei Rutenzeichen: Ja, nein, oder: Warte ab, ich prüfe die Sache.« Das fand ich lustig, und Gott selber dürfte auch schmunzeln. Zumindest jener Gott, der dem italienischen Autor Giacomo Sartori ein »Göttliches Tagebuch« diktiert hat, welches 2016 in Italien und 2019 auf Deutsch in einem mir bislang unbekannten Kölner Verlag mit dem launigen Namen Launenweber erschienen und mir erst jetzt in die Hände geraten ist (Gottes Mühlen mahlen halt langsam). Der Roman ist naturgemäß blasphemisch; sich Gott als Tagebuchautor vorzustellen und mithin zu vermenschlichen, ist freilich auch nichts wirklich Neues. Komisch daran sind die vielen Scherze, die Sartori auf der Meta-Ebene ansiedelt. Denn natürlich ist es grotesk, dass ein »Wesen«, das alles kann und weiß, auf einmal anfängt, sehr menschlich Tagebuch zu schreiben. Vielleicht aus Langeweile?

Gott flaniert also durch das von ihm ausbaldowerte Universum, um nach dem Rechten zu schauen und hier und da ein paar Eingriffe vorzunehmen. »Man könnte einwenden, dass ich bereits weiß, was ich sehen werde, und dass ich somit wenig Spaß daran habe.« Gott hat aber Spaß, weil er die »Beschaffenheit jedes einzelnen der Milliarden und Milliarden von Sternen« immer mal wieder vergisst, und dann »staune ich trotzdem stets über die ganze Vielfalt«. Gott führt eine, nun ja: Existenz, die weit entfernt ist von aktuellen Themen wie etwa der Work-Life-Balance, weil ja »für einen Gott die Unterscheidung zwischen Arbeit und Freizeit keinen Sinn hat, denn offenbar ist mein Tun keine richtige Arbeit«.

Über die Komik solcher theologischen Reflexionen hinaus, etwa Gottes Kopfschütteln – »Kopf« eher metaphorisch gemeint – darüber, dass ihm ein Typ namens Jesus, dieser »abgezehrte Langhaarige«, als »angeblicher Sohn« untergejubelt werden soll, besteht der Charme des Buches darin, dass Gott sich verliebt, und zwar in eine resolute junge Frau namens Dafne. Die ist radikale Atheistin, forscht an einem Institut für Molekulargenetik und verdient nebenbei Geld mit dem Besamen von Kühen. Gott ist hinfort verständlicherweise »ein bisschen durcheinander«, müht sich aber lange erfolgreich, seine »transzendente Würde« zu wahren und seine Gefühle (»soweit dieser Begriff für einen Gott Gültigkeit haben kann«) zu unterdrücken.

Viel Potential für schlaue Scherze, und Sartori schöpft es gnadenlos und manchmal ein bisschen zur Redundanz neigend aus. Aber es bleiben genug komische und ernsthafte Momente, die dieses im Übrigen auch zivilisationskritische Buch, Gott sei Dank, lesenswert machen.

  

Aktuelle Startcartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Hoffentlich klappt’s, Künstlerin Marina Abramović (77)!

Sie wollen gern mindestens 103 Jahre alt werden. Alt zu sein sei in der Kultur des Balkans, im Gegensatz zu der Nordamerikas, etwas Großartiges. Sie seien »neugierig wie eine Fünfjährige« und wollen noch schwarze Löcher und Außerirdische sehen.

Wir wollen auch, dass Sie Außerirdische sehen bzw. dass die Außerirdischen Sie sehen, Abramović. Wenn Sie die Extraterrestrischen, die, wie wir aus diversen Blockbuster-Filmen wissen, nichts Gutes im Schilde führen, mit einer Ihrer verstörenden Performances voll Nacktheit, Grenzüberschreitung und Selbstgefährdung begrüßen, wenden sie sich vielleicht doch von uns ab.

Kommt stets in Frieden: Titanic

 Eine dicke Nuss, »ZDF heute«,

hast Du uns da zu rechnen gegeben: »Die Summe aus sinkenden Ticketverkäufen und gestiegenen Kosten« führe dazu, dass Festivals heutzutage meist ein »Minusgeschäft« seien.

Also wenn man die Ticketverkäufe und die gestiegenen Kosten addiert, wie man es ja in der Erstsemester-BWL-Vorlesung gelernt hat, und davon ausgeht, dass die Ticketverkäufe trotz Flaute größer als Null bleiben und auch die Kosten eine positive Zahl bilden, die Summe entsprechend ebenfalls positiv bleibt (und kein »Minusgeschäft« ergeben kann), dann müsste das Ergebnis doch sein … hmm … ja, genau: dass Du wirklich keine Ahnung von Mathe hast.

Aber mach Dir nichts draus, dafür hast Du ja Deine Zählsorger/innen von Titanic

 Eine Frage, »Welt«-Newsletter …

Du informiertest Deine Abonnent/innen mit folgenden Worten über die Situation nach dem Hoteleinsturz in Kröv: »Bisher wurden zwei Menschen tot geborgen, weitere konnten verletzt – aber lebend – gerettet werden.« Aber wie viele Menschen wurden denn bitte verletzt, aber leider tot gerettet?

Rätselt knobelnd Titanic

 Hello, tagesschau.de!

All Deinen Leser/innen, die von Tim Walz, der für die US-Demokraten als Vizekandidat in den Wahlkampf ziehen soll, bisher noch nicht allzu viel gehört hatten, wusstest Du doch immerhin zu berichten, er sei ein ehemaliger »Lehrer und gilt als einer, der die einfache Sprache der Menschen spricht«. Und nichts für ungut, tagesschau.de, aber dass ein Kandidat im US-Wahlkampf, ein einstiger Lehrer zudem, Englisch spricht, das haben selbst wir uns schon beinahe gedacht.

Deine einfachen Menschen von Titanic

 Moin, »Spiegel«!

Bei dem Artikel »Wir gegen uns« wussten wir nach dem Artikelvorspann »Die linksextreme Szene in Deutschland hat einen neuen Gegner: sich selbst« schon, dass da nichts Kluges drinstehen kann. Die Linke sich selbst ein »neuer Gegner«? Da drehen sich aber so einige vor Lachen im Grabe um.

Nicht ganz so geschichtsvergessen: Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Zero Punkte für den Underdog

Nach meinem Urlaub in Holstein möchte ich an dieser Stelle eine Lanze für die oft zu Unrecht belächelte Ostsee brechen. Jene, so heißt es, sei eigentlich gar kein richtiges Meer und habe ihre unwürdige Existenz bloß einer brackigen XXL-Schmelzwasserpfütze zu verdanken. Wellen und Brandung seien lächerlich, die Strände mickrig und das Leben unter Wasser mit der Artenvielfalt in einem Löschtümpel vergleichbar. Außerdem habe ein Gewässer, in das man vierhundert Meter hineinschwimmen und danach selbst als Siebenjähriger noch bequem stehen könne, das Prädikat »maritim« schlicht nicht verdient. Vorurteile, die ich nur zu gerne mit fantastischen Bildern und spektakulären Videos widerlegen würde. Doch daraus wird dieses Mal nichts. Leider habe ich meine kompletten Küsten-Campingferien aus Versehen im »Freibad am Kleinen Dieksee« verbracht und den Unterschied erst zu spät bemerkt!

Patric Hemgesberg

 Etwas Heißem auf der Spur

Jedes Mal, wenn ich mir im Hochsommer bei herabgelassenen Rollläden oder aufgespanntem Regenschirm vergegenwärtige, dass das Leben in unseren versiegelten Städten auf entsetzlich wechselhafte Weise öde und klimatisch vollkommen unerträglich geworden ist, frage ich mich unwillkürlich: TUI bono?

Mark-Stefan Tietze

 Steinzeitmythen

Fred Feuerstein hat nie im Steinbruch gearbeitet, er war Rhetoriker! Er hat vor 10 000 Jahren zum Beispiel den Whataboutism erfunden und zu seiner Losung erhoben: »Ja, aber … aber du!«

Alexander Grupe

 Abschied

Juckeljuckeljuckel,
Das Meer liegt hinterm Buckel,
Dort vorne, da ist Dover,
Da ist die Reise over.

Gunnar Homann

 SB-Kassen

Zu den Seligen, die an Selbstbedienungskassen den Laden kaltblütig übervorteilen, gehöre ich nicht. Im Gegenteil, obwohl ich penibel alle Artikel scanne und bezahle, passiere ich die Diebstahlsicherungsanlage am Ausgang immer in der angespannten Erwartung, dass sie Alarm schlagen könnte. Neulich im Discounter kam beim Griff zu einer Eierschachtel eine neue Ungewissheit hinzu: Muss ich die Schachtel vor dem Scannen wie eine professionelle Kassierkraft öffnen, um zu kucken, ob beim Eierkauf alles mit rechten Dingen zugeht?

Andreas Maria Lugauer

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

  • 12.09.:

    "Heute detoxe ich im Manager-Retreat im Taunus": TITANIC-Chefredakteurin Julia Mateus im Interview mit dem Medieninsider.

Titanic unterwegs
13.09.2024 Stade, Schwedenspeicher Ella Carina Werner
14.09.2024 Frankfurt, Museum für Komische Kunst Bernd Pfarr: »Knochenzart«
16.09.2024 Wiedensahl, Wilhelm-Busch-Geburtshaus Hilke Raddatz mit Tillmann Prüfer
17.09.2024 Stadthagen, Wilhelm-Busch-Gymnasium Wilhelm-Busch-Preis Hilke Raddatz mit Bernd Eilert