Humorkritik | September 2024

September 2024

»Ich finde es erheiternd, dass wir alle keine Ahnung haben, Erklärungsversuche machen, an höhere Gesetze glauben, eine Religion suchen. Einen Sinn, einen Halt, in diesem Furz von absurdem Leben.«
Sibylle Berg

Genderstars

Eine Frau spielt einen Mann, der als Frau auftritt. Das ist die Grundidee. Und die klingt so zeitgemäß, dass es verwundert, wie lange sie schon durch die Filmwelt streift. »Viktor & Viktoria« heißen drei Filme, die auf dieser Idee basieren (1933, 1957, 1982). Die vierte, französische Version von 1934 heißt »Georges et Georgette«; nur die fünfte, britische Fassung von 1935 trägt einen gänzlich anderen Titel: »First a Girl« hält sich stellenweise schnittgenau an den deutschen Erstfilm. Auch in allen anderen Varianten werden weite Teile des Originals reproduziert – allein die Revuenummern unterscheiden sich deutlich voneinander.

Am erfolgreichsten war Blake Edwards’ Adaption »Victor/Victoria« von 1982. Allein in den USA spielte der Film das Doppelte seines Budgets ein; Henry Mancini gewann einen Oscar für die Filmmusik, Julie Andrews einen Golden Globe für die weibliche Hauptrolle, Robert Preston war nominiert. Das deutsche Remake von 1957 wurde nicht prämiert, obwohl Johanna von Koczian in ihrer ersten Leinwandrolle den Mann, der als Damenimitator Erfolg hat, recht überzeugend spielt.

Die Grundidee hatte Reinhold Schünzel. Er galt seinerzeit in Deutschland als das größte Talent für Komödien seit Ernst Lubitsch. Der Schünzel-Touch ist indes nicht ganz so kultiviert, was zum Teil an den Darstellern lag, die dem Regisseur und Autor zur Verfügung standen. »Viktor & Viktoria« hat er 1933 verfilmt, mit seiner Entdeckung Renate Müller und Hermann Thimig in den Hauptrollen. Die Uraufführung fand am 23. Dezember 1933 in Berlin statt. Schünzels Film war ein Erfolg, beim Publikum wie bei der Kritik; selbst der Völkische Beobachter lobte die »sprühende« Inszenierung. Und das ist erstaunlich, wenn man bedenkt, wie frivol der Stoff den Nationalsozialisten vorkommen musste: Mit ihrem Bild von den Rollen, die Mann und Frau zu spielen hätten, stimmte Schünzels Interpretation so gar nicht überein. Auch wenn hier – anders als bei Edwards – die homosexuelle Komponente allenfalls untergründig durchschimmerte.

Und da beginnen die Legenden. Adolf Hitler hatte der Film angeblich gefallen; zumindest die Hauptdarstellerin Renate Müller war nach seinem Geschmack: Ihre Ausstrahlung ähnelte der seiner unglücklichen Nichte Geli Raubal so sehr, dass Joseph Goebbels seinen Führer gern mit ihr verheiratet hätte. Renate Müller starb 1937 unter ungeklärten Umständen. Vielleicht zog sie – wie vor ihr Geli Raubal – den Freitod dieser Ehe vor.

Dass Reinhold Schünzel, Sohn einer jüdischen Mutter und damit gemäß den Rassengesetzen »Halbjude«, im Dritten Reich überhaupt noch Filme machen durfte, grenzt an ein Wunder. Erst 1937 überreizte Schünzel sein Privileg mit einer operettenhaften Parodie auf das Nazi-Regime, »Land der Liebe«. Zumindest Goebbels sah das so: »Der Film bringt uns einen ungeheuren Schaden. Der darf so nicht heraus«, schrieb er in sein Tagebuch, und: »Das hat dieser Halbjude Schünzel mit Absicht gemacht. Aber ich werde diesen Unrat ausmisten.« Bevor Goebbels seine Absicht umsetzen konnte, ging Schünzel außer Landes. In Hollywood hatte er als Regisseur allerdings weniger Glück und musste sich, wie in seiner Anfangszeit, als Schurkendarsteller durchschlagen. Ob er gern Nazis gespielt hat, ist nicht überliefert.

Wie Schünzels Karriere ohne diesen Bruch verlaufen wäre, hätte ich gern gewusst. Denn auch nach seiner Rückkehr in die BRD konnte er nicht an frühere Erfolge anknüpfen. Vor 70 Jahren ist Reinhold Schünzel gestorben.

  

Aktuelle Startcartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Heda, »FAZ«

»Schlechte Politik verhindert Fortschritt« – das stimmt. Aber ist das nicht haargenau die Politik, für die Du immer trommelst?

Fragt schlecht und recht Titanic

 Mmmmmh, Iglo-Freibad-Pommes!

Ihr seid ein neues Tiefkühlprodukt, das in diesem Sommer vom grassierenden Retro- und Nostalgietrend profitieren möchte. Daher seid Ihr derzeit auf den großen Plakatwänden im Stadtbild vertreten, und zwar garniert mit dem knusprigen Claim: »Das schmeckt nach hitzefrei«.

Aber schmeckt Ihr, wenn wir uns recht erinnern, nicht ebenfalls nach einem kräftigen Hauch von Chlor, nach einem tüchtigen Spritzer Sonnenmilch und vor allem: nach den Gehwegplatten aus Beton und der vertrockneten Liegewiese, auf welchen Ihr regelmäßig zu Matsch getreten werdet?

In jedem Fall bleibt es Euch weiterhin verboten, vom Beckenrand zu springen, schimpft Eure Bademeisterin  Titanic

 Gut möglich, lieber spiegel.de,

dass es an der drückenden Hitze liegt. Doch wenn wir in Deinem Ratgeber-Artikel »So schützen Sie Ihr Gehirn bei hohen Temperaturen« lesen, wie wir uns im Sommer »gehirngerecht« verhalten können, dann rauchen uns die Köpfe. Haben wir uns unseren Hirnen gegenüber schon häufiger unangemessen aufgeführt? Hätten die grauen Zellen nicht auch von selbst an unser Fehlverhalten denken können? Und vor allem: Ist es jetzt nicht am wichtigsten, unsere Gehirne vor weiterem Spiegel-Konsum zu schützen?

Schließt eiskalt den Browser: Titanic

 U sure, Jürgen Klopp?

U sure, Jürgen Klopp?

Nachdem Sie Ihren Posten beim FC Liverpool niedergelegt haben, halten Sie sich in Sachen Zukunftspläne bedeckt. Nur so viel: »Ich werde irgendwas arbeiten. Ich bin zu jung, um nur noch Padel-Tennis und Enkelkinder zu machen.«

Keine Ahnung, wie Sie sich den typischen Alltag im Ruhestand so vorstellen, Kloppo. Doch wenn Menschen fortgeschrittenen Alters Nachwuchs zeugen, heißt das Ergebnis – zumindest in den meisten Fällen – »Kinder« und nicht »Enkelkinder«.

Schwant Böses: Titanic

 Dass Du das »Du«, Steffen Freund,

so bescheuert verwendest, werden wir von Deiner Zeit als Fußball-Co-Kommentator bei RTL in unangenehmer Erinnerung behalten.

»Das muss anders gespielt werden! Du musst den Spieler in die Zone bringen.« – »Das zeichnet eine gute Mannschaft eben aus – dann lässt du dich besser fallen.« – »Gegen den Ball ist da kein Abnehmer, und das spürst du natürlich auch.« – »… und dann bist du in einer Situation, wo es gelb bis rot wird.« – »Dann hast du noch drei zentrale Mittelfeldspieler, das reicht dann mal nicht.« – »Du brauchst jetzt zwei Spieler, die noch frisch sind.« – »Es ist ein K.-o.-Spiel! Du hast nur noch 20 Minuten!« – »Einfach mal durchstecken! Jetzt kannst du eins gegen eins gehen!«

Eben nicht. Weil wenn’s ganz unerträglich wird, kannst Du natürlich den Ton abschalten.

Brauchst Du aber nicht mehr. Jetzt ist es ja vorbei. Und Du liest wieder Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Abschied

Juckeljuckeljuckel,
Das Meer liegt hinterm Buckel,
Dort vorne, da ist Dover,
Da ist die Reise over.

Gunnar Homann

 Steinzeitmythen

Fred Feuerstein hat nie im Steinbruch gearbeitet, er war Rhetoriker! Er hat vor 10 000 Jahren zum Beispiel den Whataboutism erfunden und zu seiner Losung erhoben: »Ja, aber … aber du!«

Alexander Grupe

 Etwas Heißem auf der Spur

Jedes Mal, wenn ich mir im Hochsommer bei herabgelassenen Rollläden oder aufgespanntem Regenschirm vergegenwärtige, dass das Leben in unseren versiegelten Städten auf entsetzlich wechselhafte Weise öde und klimatisch vollkommen unerträglich geworden ist, frage ich mich unwillkürlich: TUI bono?

Mark-Stefan Tietze

 Europa aphrodisiakt zurück

Wenn es hierzulande etwas im Überfluss gibt, dann verkalkte Senioren und hölzerne Greise. Warum also nicht etwas Sinnvolles mit ihnen anfangen, sie zu Pulver zerreiben und in China an Tiger gegen Schlaffheit der Genitalien verkaufen?

Theobald Fuchs

 Ach, übrigens,

der Typ, mit dem ich in jedem Gespräch alle drei Minuten für mindestens fünf Minuten zu einem Nebenthema abschweife: Ich glaube, wir sind jetzt exkursiv miteinander.

Loreen Bauer

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

  • 12.09.:

    "Heute detoxe ich im Manager-Retreat im Taunus": TITANIC-Chefredakteurin Julia Mateus im Interview mit dem Medieninsider.

Titanic unterwegs
13.09.2024 Stade, Schwedenspeicher Ella Carina Werner
14.09.2024 Frankfurt, Museum für Komische Kunst Bernd Pfarr: »Knochenzart«
16.09.2024 Wiedensahl, Wilhelm-Busch-Geburtshaus Hilke Raddatz mit Tillmann Prüfer
17.09.2024 Stadthagen, Wilhelm-Busch-Gymnasium Wilhelm-Busch-Preis Hilke Raddatz mit Bernd Eilert