Humorkritik | August 2022

August 2022

»Die höchste Lebensspanne des Menschen beträgt hundert Jahre, die mittlere Lebensspanne beträgt achtzig Jahre, die geringe Lebensspanne beträgt sechzig Jahre; abgesehen von Zeiten, in denen man an Krankheiten leidet, um Todesfälle trauert oder sich um Gefahren sorgt, bleiben höchstens vier oder fünf Tage im Monat, an denen man den Mund öffnet und lacht – das ist alles.«
Zhuangzi

Ratlos in Finthen

Ich weiß nicht, was mich bei der Lektüre des eigenartigerweise bereits mit dem Jahr 1994 abbrechenden »Tagebuch 1966–1996« (»Die unterschiedlichen Folgen der Phantasie«, Schöffling & Co.) des von mir nachweislich schwer gelobten Ror Wolf mehr irritiert: wenn es so gar nicht nach Ror Wolf klingt oder wenn es dies ganz im Gegenteil auf sehr ostentative Weise tut. Ersteres trifft weniger auf Notate zu, die das Stenografische von Tagebüchern fast schon zu parodieren scheinen (»1. Juli FAHRSCHULE Weege. / 3. Juli Fahrschule 1 / 7. Juli Fahrschule 2 / 10. Juli Fahrschule 3« usf.), sondern vielmehr auf solche, die mit offensichtlichem Ernst Ereignisse und Streitereien im literaturbetrieblichen Leben protokollieren. Dazu kommen andere Merkwürdigkeiten des Wolfschen Alltags, der sich als ähnlich kleinteilig und fragmentarisch erweist wie die Collagen und Kürzesterzählungen seiner Literatur: die Katastrophen und Köstlichkeiten eines nebenehelichen Liebeslebens (wobei: Liebe …); das rastlose Herumfahren und -reisen; die nahezu jährlichen, von einer Malaise in die nächste mündenden Umzüge; die Getriebenheit des Autors; das fortwährende Produzieren all jener großartigen Texte, die dann doch weniger unterschätzt wurden, als Wolf gern glauben machen will: Zwar ließen die Verkaufszahlen zu wünschen übrig, der Künstler wurde aber so ziemlich alles los, was er schrieb, hat gut verdient und ordentlich Preise eingeheimst.

Letzteres vollkommen zu Recht, wie jene Tagebuchpassagen zeigen, die auch in Wolfs Prosabänden hätten stehen können: »Wohnungssuche: Große Ratlosigkeit in Finthen«. Oder: »Heute bin ich in einen Wald gegangen und kam, nach einer guten Stunde, in ein Dorf und dort in einen Gasthof zum Goldenen Ritter. Als ich fragte, wo ich denn sei, entgegnete der Wirt, hier sei ich in Budenheim. Und wirklich, so war es.« Rätselhaftigkeiten: »Sonntäglicher Versuch, nach Usingen zu fahren. Der Saab kommt mit merkwürdig schabenden Geräuschen nur bis Idstein. Probleme beim Tortenholen.« Aushöhlungen, wie man sie von Wolf-Figuren kennt: »Ich, stumpf, ausgepumpt, ausgeschlürft, schleiche über die Weltoberfläche dahin und verschwinde gerade im Hintergrund, das sieht man gern.« Zum Glück dann aber »Langsames Verschwinden der Erschöpfung am Samstag«. Alles in allem ein »kurzentschlossenes vertretbares Leben«.

Natürlich ist so ein Tagebuch vornehmlich für jene interessant, die Ror Wolfs Arbeiten kennen und schätzen (was dasselbe ist). Doch wenn man sich eingelesen hat, kann einem dieser Tagebuchautor selbst wie eine literarische Figur vorkommen, die eindrücklich aus dem Leben eines Schriftstellers zu erzählen weiß: »27. Oktober Nichts Wesentliches. – Zunächst keine Lesungen mehr, das ist beschlossen. Ich werde gelegentlich aus der Dunkelheit herausspringen und die Welt überraschen und wieder zurückspringen. Es muß aber etwas Geheimnisvolles zurückbleiben.«

Dieses Geheimnisvolle eignet auch der Wolfschen Komik, wie sie der Autor programmatisch am Beispiel von Jean Paul typisiert: »Es gibt einen poetischen Wahnsinn, aber auch einen humoristischen, den Sterne hatte; aber nur Leser von vollendetem Geschmack halten höchste Anspannung nicht für Überspannung: Jean Paul.« Bedauerlich, dass R. Wolf seine Komikspannungen umständehalber (Ableben am 17.2.2020) nicht mehr produzieren kann.

  

Aktuelle Startcartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Huhu, »HNA« (»Hessische/Niedersächsische Allgemeine«)!

Mit großer Verblüffung lesen wir bei Dir in einem Testbericht: »Frischkäse ist kaum aus einem Haushalt in Deutschland wegzudenken.«

Och, Menno! Warum denn nicht? Und wenn wir uns nun ganz doll anstrengen? Wollen wir es denn, HNA, einmal gemeinsam versuchen? Also: Augen schließen, konzentrieren und – Achtung: hui! – weg damit! Uuuund: Futschikato! Einfach aus dem eigenen Haushalt weggedacht. Und war doch überhaupt nicht schlimm, oder?

Es dankt für die erfolgreiche Zusammenarbeit und hofft, einen kleinen Denkanstoß gegeben zu haben, wenn nicht gar einen Wegdenkanstoß: Titanic

 Keine Übertreibung, Mathias Richling,

sei die Behauptung, dass die Ampel »einen desaströsen Eindruck bei jedermann« hinterlasse, denn in den vielen Jahren Ihrer Karriere, so schilderten Sie’s den Stuttgarter Nachrichten, hätten Sie es noch nie erlebt, »dass ohne jegliche pointierte Bemerkung allein die bloße Nennung des Namens Ricarda Lang ein brüllendes Gelächter auslöst«.

Aber was bedeutet das? »Das bedeutet ja aber, zu Mitgliedern der aktuellen Bundesregierung muss man sich nichts Satirisches und keinen Kommentar mehr einfallen lassen.« Nun beruhigt uns einerseits, dass Ihr Publikum, das sich an Ihren Parodien von Helmut Kohl und Edmund Stoiber erfreut, wohl immerhin weiß, wer Ricarda Lang ist. Als beunruhigend empfinden wir hingegen, dass offenbar Sie nicht wissen, dass Lang gar kein Mitglied der aktuellen Bundesregierung ist.

Muss sich dazu nichts Satirisches und keinen Kommentar mehr einfallen lassen: Titanic

 Damit hast Du nicht gerechnet, »Zeit online«!

Als Du fragtest: »Wie gut sind Sie in Mathe?«, wolltest Du uns da wieder einmal für dumm verkaufen? Logisch wissen wir, dass bei dieser einzigen Aufgabe, die Du uns gestellt hast (Z+), erstens der zweite Summand und zweitens der Mehrwert fehlt.

Bitte nachbessern: Titanic

 Ganz, ganz sicher, unbekannter Ingenieur aus Mittelsachsen,

dass Du Deine Verteidigungsstrategie nicht überdenken willst? Unter uns, es klingt schon heftig, was Dir so alles vorgeworfen wird: Nach einem Crash sollst Du einem anderen Verkehrsteilnehmer gegenüber handgreiflich geworden sein, nur um dann Reißaus zu nehmen, als der Dir mit der Polizei kommen wollte.

Die beim wackeren Rückzug geäußerten Schmähungen, für die Du nun blechen sollst, wolltest Du vor dem Amtsgericht Freiberg dann aber doch nicht auf Dir sitzen lassen. Weder »Judensau« noch »Heil Hitler« willst Du gerufen haben, sondern lediglich »Du Sau« und »Fei bitter«. Magst Du das nicht noch mal mit Deinem Rechtsbeistand durchsprechen? Hast Du im fraglichen Moment nicht vielleicht doch eher Deinen Unmut über das wenig höfische Verhalten des anderen Verkehrsteilnehmers (»Kein Ritter!«) geäußert, hattest Deinen im selben Moment beschlossenen Abschied von den sozialen Medien (»Bye, Twitter!«) im Sinn, oder hast gar Deiner verspäteten Freude über die olympische Bronzemedaille des deutschen Ruder-Achters von 1936 (»Geil, Dritter!«) Ausdruck verliehen?

Nein? Du bleibst dabei? Und würdest dafür sogar ins Gefängnis gehen (»Fein, Gitter!«)?

Davor hat fast schon wieder Respekt: Titanic

 Sie, Romancier Robert Habeck,

Sie, Romancier Robert Habeck,

nehmen Ihren Nebenjob als Wirtschaftsminister wohl sehr ernst! So ernst, dass Sie durch eine Neuauflage Ihres zusammen mit Ihrer Ehefrau verfassten Romans »Der Tag, an dem ich meinen toten Mann traf« versuchen, fast im Alleingang dem darniederliegenden Literaturmarkt auf die Sprünge zu helfen. Könnten Sie sich als Nächstes das Zeitschriftensterben vorknöpfen?

Fragt Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Nachwuchs

Den werdenden Eltern, die es genau mögen, empfehle ich meinen Babynamensvorschlag: Dean Norman.

Alice Brücher-Herpel

 Süße Erkenntnis

Für jemanden, der Pfirsich liebt, aber Maracuja hasst, hält die Welt viele Enttäuschungen bereit.

Karl Franz

 Dilemma

Zum Einschlafen Lämmer zählen und sich täglich über einen neuen Rekord freuen.

Michael Höfler

 3:6, 6:7, 0:6

Der Volontär in der Konferenz der Sportredaktion auf die Bitte, seine Story in drei Sätzen zu erzählen.

Ronnie Zumbühl

 Hellseherisch

Morgen ist einfach nicht mein Tag.

Theo Matthies

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

Titanic unterwegs
30.11.2023 Erfurt, Franz Mehlhose Max Goldt
30.11.2023 Friedrichsdorf, Forum Friedrichsdorf Pit Knorr & Die Eiligen Drei Könige
01.12.2023 Hamburg, Centralkomitee Hauck & Bauer
01.12.2023 Karben, Kulturscheune im Selzerbrunnenhof Pit Knorr & Die Eiligen Drei Könige