Humorkritik | März 2021
März 2021
Nichts ist verächtlicher als ein trauriger Witz.
Friedrich Schlegel
Barnes’ neuer Papagei
»Gustave sah sich selbst als wildes Tier – in seiner eigenen Vorstellung am liebsten als Eisbär, unerreichbar, barbarisch, solitär. Ich gab ihm Recht, sogar als ungezähmten Büffel sah ich ihn auf amerikanischen Prärien; doch vielleicht war er einfach bloß ein Papagei.«
Vor 37 Jahren schaffte Julian Barnes mit »Flauberts Papagei«, seinem dritten Roman, den internationalen Durchbruch. Und obwohl Barnes seine Leser seither verlässlich mit zwei Dutzend Romanen, Essays und Erzählungen unterhalten hat, haben manche dieser Leser, darunter ich, den »Papagei« lange für sein bestes Buch gehalten.
Damals, 1984, war diese Spezialmischung aus erzählenden und essayistischen Passagen noch als »Roman« deklariert worden – Barnes’ neues Buch, »Der Mann im roten Rock« (Kiepenheuer & Witsch), trägt keine Gattungsbezeichnung, und das ist besser so. Auf knapp 300 Seiten liefert Barnes das Panorama einer Epoche, die sich selbst (durchaus irreführend) als »Belle Époque« verherrlicht hat: Es ist die Zeit, der Proust in seiner »Recherche« ein Denkmal gesetzt hat, eine Zeit der Dandys und Ästheten, der Diven und Kurtisanen, der Duelle und Skandale, der Salons und Cabarets, der Attentate und der Syphilis, des Symbolismus und der Dekadenz.
Mehr noch als in seinem Flaubert-Buch verlässt sich Julian Barnes auf die Aussagekraft seines Materials, das aus zeitgenössischen Quellen sprudelt und von ihm zurückhaltend kommentiert wird. Briefe, Tagebücher, Biographien, Autobiographien, Zeitungsausschnitte, Schlüsselromane: All diese Stimmen und Splitter sinnvoll zu ordnen, dieses Wimmelbild lesbar zu machen, darin besteht die Hauptleistung des Autors, der dazu eine zentrale Figur gesucht und gefunden hat: Doktor Samuel Pozzi, einen Pariser Arzt, der als »Mann im roten Rock« auf einem Porträt des Salonmalers John Singer Sargent in Erscheinung tritt. Pozzi ist Kunstsammler und Krankenhausreformer, Charmeur und Chirurg, der Arzt der Prominenz, von Sarah Bernhardt bis Robert de Montesquiou, mit den meisten befreundet, bei relativ wenigen verhasst. Blendend aussehend und ein Maß an Lebensfreude und Selbstzufriedenheit ausstrahlend, das man je nach Laune als unverschämt oder ansteckend empfinden kann, ist der Frauenheld Pozzi zudem der ideale Mittelpunkt, von dem aus sich ein Zeitalter besichtigen lässt, wenn man, wie Barnes, nicht zurückschreckt vor all dem Klatsch und Tratsch, die es bestimmten. Paris war die Hauptstadt des Mondänen und ein Schmalztiegel der Halbwelt ohnehin. Das Beste an der Bourgeoisie war ihre Doppelmoral, das Schönste an der Aristokratie bekanntlich ihr Untergang.
Von Pozzi stammt auch ein Zitat, das die Aktualität des Buchs und die Absicht des Autors überdeutlich macht: »Chauvinismus ist eine Erscheinungsform der Ignoranz.« Indem er den Nutzen der Wechselwirkung zwischen England und dem Kontinent betont, präsentiert Julian Barnes den »Mann im roten Rock« als frühen Streiter gegen jede isolationistische Tendenz, als Anti-Brexiteer avant la lettre. Mit liebevoller Ironie blickt Barnes auf dessen Epoche, souverän und unterhaltsam, und hütet sich davor, sie an heutigen Moralvorstellungen zu messen: »Woher nehmen wir uns das Recht zu einem Urteil? Wir sind die Gegenwart, das ist die Vergangenheit: In der Regel genügt das den meisten.«
Schön wär’s.