Humorkritik | Oktober 2014
Oktober 2014
Die Null
Daß die Anekdote eine Gattung des Komischen ist, dürfte sich unter den Anekdotenschreibern und -sammlern noch immer nicht herumgesprochen haben. Wie sonst ist es zu erklären, daß der Band »Da stecken die Nullen drin! Anekdoten aus dem Wirtschaftsleben« (Reclam) auf summa summarum 192 Seiten nur eine einzige halbwegs lustige Anekdote enthält? Es ist die vom US-amerikanischen Bankier Bernard Baruch, dessen »schillernde Persönlichkeit weithin bekannt« war: »Er verfügte über ein feines Gespür für finanzielle Belange und machte auch noch das Unmögliche möglich. Mit seiner Familie gönnte er sich ein paar Tage Urlaub im Yellowstone-Nationalpark. Als er dort Opfer eines Überfalls wurde, sprach sich dies schnell herum. Doch Baruch wäre nicht Baruch, wenn er diese Situation nicht bravourös gemeistert hätte. Und so schickte ihm der Präsident der Central Trust Company, James Wallace, gleich danach ein Telegramm mit dem Wortlaut: ›Ich höre, Sie sind überfallen worden. Wieviel haben die Räuber dabei verloren?‹«
Den Rest kann man sich, wenn dieses Wort in der Geschäftswelt erlaubt ist, schenken. Oder man kauft sich das Werk, weil man die Werbung, die es für den Kapitalismus macht, auch noch bezahlen will: Das Buch ist 2012 erschienen, vier Jahre nach Ausbruch der jüngsten Weltwirtschaftskrise, aber sein Herausgeber Roland Leonhardt weiß von ihr nichts. Damit seine heile Welt keinen Kratzer kriegt, schleimt er sich lieber mit einem Winston-Churchill-Zitat beim »freien Unternehmertum« ein: »Manche halten den Unternehmer für einen räudigen Wolf, den man totschlagen müsse; andere meinen, er sei eine Kuh, die man ununterbrochen melken könne; nur wenige sehen in ihm ein Pferd, das den Karren zieht.« Wenn es um »die Wirtschaft« oder »die Industrie« geht, gehören die Hunderte Millionen Arbeiter und Angestellte übrigens nicht dazu und haben infolgedessen auch kein Anrecht darauf, in diesem Buch wahrgenommen zu werden. Im Unterschied zu Henry Ford, Alfred Krupp und sogar Hans-Olaf Henkel. Im Unterschied auch zu den vielen Firmen, vor denen Leonhardt den Diener macht, z.B. Kellogg: »Mit einem Jahresumsatz von fast 13 Milliarden Dollar ist Kellogg heute Arbeitgeber von weltweit rund 30 000 Mitarbeitern und produziert mehr als 50 verschiedene Sorten von Zerealien, die in 180 Ländern erhältlich sind.«
Hier hat wohl einer zu tief in den Geschäftsbericht geguckt und war so besoffen von dieser Welt aus Geld und Erfolg, daß ihm die Distanz, die man braucht, um etwas als komisch zu erkennen, abhanden kam. Friedrich Nietzsche prophezeit irgendwo, eines Tages werde das schon zu seiner Zeit hochästimierte Kaufmannswesen, all das Handeln, Kaufen und Verkaufen, zu einer gänzlich unbedeutenden Nebensache geworden sein, ähnlich dem Jagen und Sammeln. Auf diese Art von Anekdotenschreiben und -sammeln trifft das hoffentlich dann auch zu.