Humorkritik | September 2011

September 2011

Zweifelhafter Zschokke

Matthias Zschokkes Buch »Lieber Niels« (Verlag Wallstein) versammelt auf 762 Seiten die tagebuchartigen Mails, die der Verfasser, hauptberuflich Schriftsteller, seinem Freund Niels geschickt hat, von Oktober 2002 bis September 2009. Wie ich Kritiken entnommen habe, sind diese Mails leicht, vergnüglich, lebendig, komisch, beglückend, wunderbar, durchzogen von köstlicher Ironie und maliziösem Humor (Süddeutsche Zeitung) bzw. witzig, funkelnd, anmutig, unwiderstehlich, süchtigmachend, vergnüglich und leicht (FAZ). Kann da noch etwas schiefgehen?

Am amüsantesten ist es, wenn Zschokke schimpft: »Was für ein grottenschlechter Autor, dieser Peter Weiss! Ein humorloser Kursleiter für Marxismus in der Volkshochschule Lübeck. Entsetzlich. Und so furchtbar altfränkisch, pfeiferauchend, tümelnd, verklemmt. Grauenhaft.« Es trägt sicherlich viel zum Vergnügen bei, wenn man zufällig auch noch der gleichen Meinung ist. »Ein Gesellschaftsjournalist namens Volker Weidermann hängt seine paar Feuilletonbeiträge, in denen er beschreibt, wie er mit dem und jenem Schriftsteller ein Glas Sekt getrunken hat, aneinander und erklärt das zum Kanon der deutschsprachigen Literatur.« Erfreulicherweise greift Zschokke auch den bereits zu Lebzeiten seliggesprochenen Literaturpapst Marcel Reich-Ranicki an: »Er hat nicht einen Autor entdeckt, nicht einen verhindert. Er hat nur dummes Zeug geschwätzt über das, über das alle anderen jeweils gerade auch schwätzten. Und hat sich als Oberschwätzer über die Schwätzer erhoben.«

Weniger vergnüglich sind die Mitteilungen aus Zschokkes schriftstellerischem Alltagsleben. Grämlich registriert er die höher dotierten Literaturpreise, die höheren Auflagen, die höheren Lesungshonorare und die publikumswirksamere Vortragskunst mancher Kollegen und lamentiert darüber unaufhörlich, obwohl er einräumt, daß er selbst nicht viel zu sagen habe und bei Lesungen eine schlechte Figur abgebe.

Zschokke, Jahrgang 1954, gehört dem literarischen Mittelstand an – nicht berühmt, aber doch gedruckt, gelobt, mit immerhin Stücker dreizehn Literaturpreisen geehrt und auch sonst leidlich gut durchgefüttert und nicht unflott alimentiert; er wird, wie man seinem Buch entnehmen kann, des öfteren eingeladen, nach Prag, nach Paris, nach Zürich, nach New York, nach Santa Cruz, nach St. Petersburg, nach Lausanne, nach Budapest, nach Teheran gar und nach Jordanien und sonstwohin: Für einen Autor mit nagenden Selbstzweifeln ist das eine stattliche Bilanz.

Und seine Selbstzweifel sind berechtigt. Denn was bringt er uns von seinen Reisen in die Welt und von den Streifzügen durch seinen Wortschatz mit? Über die große, große Stadt New York berichtet Zschokke: »Von morgens bis abends laesst sie ihre Muskeln spielen und noetigt mir ein WOW! ab. Das ist ermuedend.« Allerdings. Das ferne Chile hingegen ist »ein überwältigend schönes Land«, und Prag ist »eine wunderschöne Stadt«. Aha. Und wie war es in Brandenburg? »In Brandenburg war es schön.« Tatsächlich? »Ja, Brandenburg hat mir gut gefallen.« Köstlich! Und wie war das Essen in Stralsund? »Gegessen haben wir gut.« Ach ja? Und wie war’s in Paris? »Paris hat mir diesmal gut gefallen, ja.« Des weiteren teilt Zschokke mit, wie eine Opernsängerin gesungen habe (»wunderschön«) und wie der Fisch in Griechenland schmeckte (»ausgezeichnet«). Und was macht der König Fußball? »TOOOR, TOOOR, TOOOR! Wir sind im Halbfinale! – Ein schönes Spiel. Gratuliere. Zum Glück bleibt Deutschland drin. Berlin mit vom Fußballfieber geröteten Wangen und glänzenden Augen ist eine schöne Stadt.«

Jetzt, nachdem ich Zschokkes Buch gelesen habe, halte ich es nicht mehr für ausgeschlossen, daß er auch für seinen eigenen Wikipedia-Eintrag verantwortlich ist. Darin wird ihm im Stil eines b’suffn formulierten Waschzettels nachgesagt, er konterkariere »elegant-charmant traditionelle Kunstmuster und Kunsterwartungen«, wiewohl sich sein Werk »ins Melancholische verdunkelt« habe: »Aber er konnte sein Schreiben immer mehr perfektionieren; mittlerweile hat er einen mikrokosmischen Blick wie Robert Walser entwickelt, der mit zärtlicher Genauigkeit die Condition humaine schilderte. Und wie dieser ist Zschokke ein Dichter.« Ja, mehr als das: Er sei sogar »ein Tarnkappendichter, ähnlich wie Franz Kafka seinerzeit«.

Klar doch. Berlins vom Fußballfieber gerötete Wangen wären nämlich zweifellos auch Robert Walsers mikrokosmischem Zärtlichkeitsblick nicht entgangen, und man darf sicher sein, daß das Muskelspiel New Yorks auch dem Tarnkappendichter Franz Kafka ein »WOW!« abgenötigt hätte. Vorausgesetzt, er hätte sein Schreiben, ähnlich wie Matthias Zschokke, immer mehr perfektioniert.

  

Aktuelle Startcartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Kurz hattet Ihr uns, liebe Lobos,

Kurz hattet Ihr uns, liebe Lobos,

als Ihr eine Folge Eures Pärchenpodcasts »Feel the News« mit »Das Geld reicht nicht!« betiteltet. Da fragten wir uns, was Ihr wohl noch haben wollt: mehr Talkshowauftritte? Eine Homestory in der InTouch? Doch dann hörten wir die ersten zwei Minuten und erfuhren, dass es ausnahmsweise nicht um Euch ging. Ganz im Sinne Eures Formats wolltet Ihr erfühlen, wie es ist, Geldsorgen zu haben, und über diese Gefühle dann diskutieren. Im Disclaimer hieß es dann noch, dass Ihr ganz bewusst über ein Thema sprechen wolltet, das Euch nicht selbst betrifft, um dem eine Bühne zu bieten.

Ihr als Besserverdienerpärchen mit Loft in Prenzlauer Berg könnt ja auch viel neutraler und besser beurteilen, ob diese Armutsängste der jammernden Low Performer wirklich angebracht sind. Leider haben wir dann nicht mehr mitbekommen, ob unser Gefühl, Geldnöte zu haben, berechtigt ist, da wir gleichzeitig Regungen der Wohlstandsverwahrlosung und Realitätsflucht wahrnahmen, die wir nur durch das Abschalten Eures Podcasts loswerden konnten.

Beweint deshalb munter weiter den eigenen Kontostand: Titanic

 Wussten wir’s doch, »Heute-Journal«!

Deinen Bericht über die Ausstellung »Kunst und Fälschung« im Kurpfälzischen Museum in Heidelberg beendetest Du so: »Es gibt keine perfekte Fälschung. Die hängen weiterhin als Originale in den Museen.«

Haben Originale auch schon immer für die besseren Fälschungen gehalten:

Deine Kunsthistoriker/innen von der Titanic

 Genau einen Tag, Husqvarna Group (Stockholm),

nachdem das ungarische Parlament dem Nato-Beitritt Schwedens zugestimmt hatte, mussten wir was auf heise.de lesen? Dass auf Deinen Rasenmähern der »Forest & Garden Division« nach einem Software-Update nun der alte Egoshooter »Doom« gespielt werden kann!

Anders gesagt: Deine Divisionen marodieren ab sofort nicht nur lautstark mit Rasenmähern, Traktoren, Motorsägen, Motorsensen, Trennschleifern, Rasentrimmern, Laubbläsern und Vertikutierern durch unsere Gärten, sondern zusätzlich mit Sturmgewehren, Raketenwerfern und Granaten.

Falls das eine Demonstration der Stärke des neuen Bündnispartners sein soll, na schön. Aber bitte liefere schnell ein weiteres Software-Update mit einer funktionierenden Freund-Feind-Erkennung nach!

Hisst die weiße Fahne: Titanic

 Wow, Instagram-Kanal der »ZDF«-Mediathek!

In Deinem gepfefferten Beitrag »5 spicy Fakten über Kim Kardashian« erfahren wir zum Beispiel: »Die 43-Jährige verdient Schätzungen zufolge: Pro Tag über 190 300 US-Dollar« oder »Die 40-Jährige trinkt kaum Alkohol und nimmt keine Drogen«.

Weitergelesen haben wir dann nicht mehr, da wir uns die restlichen Beiträge selbst ausmalen wollten: »Die 35-Jährige wohnt nicht zur Miete, sondern besitzt ein Eigenheim«, »Die 20-Jährige verzichtet bewusst auf Gluten, Laktose und Pfälzer Saumagen« und »Die 3-Jährige nimmt Schätzungen zufolge gerne das Hollandrad, um von der Gartenterrasse zum Poolhaus zu gelangen«.

Stimmt so?

Fragen Dich Deine Low-Society-Reporter/innen von Titanic

 Ziemlich beunruhigt, Benjamin Jendro,

lässt uns Ihr vielzitiertes Statement zur Verhaftung des ehemaligen RAF-Mitglieds Daniela Klette zurück. Zu dem beeindruckenden Ermittlungserfolg erklärten Sie als Sprecher der Gewerkschaft der Polizei: »Dass sich die Gesuchte in Kreuzberg aufhielt, ist ein weiterer Beleg dafür, dass Berlin nach wie vor eine Hochburg für eine gut vernetzte, bundesweit und global agierende linksextreme Szene ist.«

Auch wir, Jendro, erkennen die Zeichen der Zeit. Spätestens seit die linken Schreihälse zu Hunderttausenden auf die Straße gehen, ist klar: Die bolschewistische Weltrevolution steht im Grunde kurz bevor. Umso wichtiger also, dass Ihre Kolleg/innen dagegenhalten und sich ihrerseits fleißig in Chatgruppen mit Gleichgesinnten vernetzen.

Bei diesem Gedanken schon zuversichtlicher: Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Parabel

Gib einem Mann einen Fisch, und du gibst ihm zu essen für einen Tag. Zeig ihm außerdem, wie man die Gräten entfernt, und er wird auch den folgenden Morgen erleben.

Wieland Schwanebeck

 Kehrwoche kompakt

Beim Frühjahrsputz verfahre ich gemäß dem Motto »quick and dirty«.

Michael Höfler

 Pendlerpauschale

Meine Fahrt zur Arbeit führt mich täglich an der Frankfurt School of Finance & Management vorbei. Dass ich letztens einen Studenten beim Aussteigen an der dortigen Bushaltestelle mit Blick auf sein I-Phone laut habe fluchen hören: »Scheiße, nur noch 9 Prozent!« hat mich nachdenklich gemacht. Vielleicht wäre meine eigene Zinsstrategie selbst bei angehenden Investmentbankern besser aufgehoben.

Daniel Sibbe

 Teigiger Selfcaretipp

Wenn du etwas wirklich liebst, lass es gehen. Zum Beispiel dich selbst.

Sebastian Maschuw

 Kapitaler Kalauer

Da man mit billigen Wortspielen ja nicht geizen soll, möchte ich hier an ein großes deutsches Geldinstitut erinnern, das exakt von 1830 bis 1848 existierte: die Vormärzbank.

Andreas Maier

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

Titanic unterwegs
20.04.2024 Eberswalde, Märchenvilla Max Goldt
20.04.2024 Itzehoe, Lauschbar Ella Carina Werner
24.04.2024 Trier, Tuchfabrik Max Goldt
25.04.2024 Köln, Comedia Max Goldt