Humorkritik | Oktober 2011
Oktober 2011

Einer von Millionen
Können Anekdotensammlungen lustig sein? Im Fall von Roland Leonhardts Anthologie »Die passende Anekdote zu jedem Anlaß« (Humboldt-Verlag) ist dies unbedingt zu bejahen. Allerdings nicht wegen der Anekdoten selbst, da im Buch keine stehen, sondern bloß mit viel Kommentar und Tralala aufgebauschte Bonmots und Aphorismen. Eben dieses Beiwerk aber macht die Sammlung zu etwas Besonderem, weil es ernst gemeint und daher um so verrückter ist.
»Peter Altenberg war Schöngeist und Feinschmecker in einer Person«, weiß Leonhardt beispielsweise und kennt sich mit Goethe (»Goethe war nicht nur anerkannter Dichterfürst, er war auch Ministerialbeamter und hatte viele Menschen unter sich«) ebenso aus wie mit »Karl Kraus, der am liebsten an seinem Schreibtisch saß und spitze Glossen verfaßte«. In einfacher Sprache, damit er auch versteht, was er schreibt, kommt Leonhardt selbst schwierigen Fällen bei und macht sie für jedermann problemlos konsumierbar: »Der eher finstere Prager Autor Franz Kafka hatte keineswegs das, was man gemeinhin eine unbeschwerte Kindheit und Jugend nennt«, und »obwohl es das Leben mit dem Philosophen Friedrich Nietzsche nicht immer gut meinte, war er nicht enttäuscht.«
Doch Leonhardt schafft es nicht nur, komplizierte Lebensgeschichten zu trivialisieren und das Leben der Titanen in zeitgemäßes Simpel- und Blöddeutsch zu übersetzen (der uns nun schon bekannte Ministerialbeamte Goethe »soll ein passabler Vorgesetzter gewesen sein«), nein, er hebt auch gänzlich neue Tatbestände ans Licht der Öffentlichkeit: »Otto von Bismarck war kein Mensch, der es stundenlang im Liegestuhl aushielt.« Manches ist so neu, daß es selbst den Betreffenden kaum bekannt gewesen sein dürfte: »Immanuel Kant war ein Schwerarbeiter des Geistes. Er scheute sich auch nicht davor, Aufgaben zu delegieren und Mitarbeiter um Unterstützung zu bitten« – während »Friedrich Nietzsche, der zeitlebens viele Freundschaften pflegte«, sich nach dem Abbruch seiner akademischen Laufbahn »in den Süden Italiens verabschiedete«. Leonhardt hingegen reist ins Blaue, notiert über den Biertrinker Jean Paul: »Die besten Einfälle hatte er bei einem Glas Wein«, und berichtet über den schon erwähnten Kant, dessen gesellige Mittagstafel berühmt war: »In der Regel aß er allein. Nur gelegentlich hatte er Gäste zu Tisch«.
Damit hätte Leonhardt fast das Zeug, ein neuer Münchhausen zu werden, aber auch dazu fehlt ihm zweierlei: Er kann nicht nur nicht schreiben, sondern auch nicht lesen. »Eine Frau hat Millionen geborener Feinde, erklärte« – ihm zufolge – »die österreichische Schriftstellerin Marie von Ebner-Eschenbach und wußte auch gleich, welche: die Männer!« Doch Marie von Ebner-Eschenbach hat das nie behauptet. Ihr Aphorismus beginnt richtig mit: »Eine gescheite Frau«, und am Ende heißt es: »Alle dummen Männer.« Einen von ihnen kennt man nun namentlich.