Humorkritik | Juni 2008
Juni 2008

Herrnhuter Brüderhumor
Mein Verdacht, daß die Mitgliedschaft in religiösen Sekten den Humor schrumpfen und regredieren läßt, mag nicht sonderlich originell erscheinen, doch das soll mich nicht daran hindern, einen drolligen Beleg anzuführen, den ich in Albrecht Ritschls profunder »Geschichte des Pietismus« von 1886 gefunden habe. Mit Befremden äußert der Verfasser sich zunächst über die abgeschmackten Wundenlitaneien des Grafen Nikolaus Ludwig von Zinzendorf, der 1722 die Herrnhuter Brüdergemeinde ins Leben gerufen hatte (»Saft’ge Wunden Jesu, wer’s Stäblein spitzet und euch damit ein wenig ritzet, und leckt, der schmeckt«), und darauf folgt eine Schilderung des Treibens der Herrnhuter Brüder: »Die Hauptbeschäftigung aber, welche als Zeugniß christlicher Freiheit und Fröhlichkeit vier Jahre lang in Berlin wie in Herrenhag den ledigen Brüdern gefiel, bestand darin, daß sie nach der Abendandacht sich balgten, neckten und verspotteten, auch sonst rüpelhafte Streiche gegen einander verübten. Aber spöttische Unterhaltung wurde auch unter den verheirateten Männern üblich. Oder ein Hauptarbeiter in Berlin, welcher bis dahin kopfhängerisch gewesen war, machte sich ein besonderes Vergnügen daraus, den Stuhl, welchen er einem Andern angeboten hatte, demselben unversehens unter dem Leibe wegzuziehen.«
Keine Stunde hätte ich es unter diesen verschmitzten Brüdern ausgehalten, aber wenn sich Wenzel Storch dazu entschließen könnte, die Geschichte ihrer Gemeinde zu verfilmen, würde ich ihm gratulieren.