Inhalt der Printausgabe
November 2003
Humorkritik
(Seite 4 von 7)
Schrecklich amüsanter Wallace |
Der hier von mir und lange vor den abschreibenden Kollegen gewürdigte David Foster Wallace (TITANIC 10/01), der aus purer Ratlosigkeit noch immer den "neuen amerikanischen Erzählern" zugerechnet wird (Eugenathan Frantzenides et al.), ist abermals zu würdigen, und abermals nicht für sein feistes Romanwerk, sondern für ein schmales Bändchen, in dem Wallace so eine Art Standardwerk des automatischen journalistischen Schreibens vorführt, rücksichtslos gegen sich selbst und erst recht gegen seine merkwürdige Umgebung. Freimütig und ungebremst berichtet er, wie er auf eine sog. Traumreise geschickt wurde, wie aus einer Auftragsarbeit für das amerikanische Harper's Magazine schließlich dieses Büchlein entstand, das jeder ehemalige oder angehende Gruppenreisende gelesen haben sollte. Auf 183 Seiten bringt Wallace alles und noch viel mehr unter, was sein verblüffend hochtourig laufender Rezeptionsapparat innerhalb einer Woche auf einem amerikanischen Unterhaltungskreuzfahrtschiff gesehen, gehört, gefühlt, gerochen und gegessen hat, und Platz für nicht weniger als 136 zum Teil doppelseitige Fußnoten findet sich darüber hinaus auch noch. Ich will von diesem exzeptionellen Lesevergnügen überhaupt nichts vorwegnehmen, nichts von dem Personal preisgeben, das Wallace unter der zombiehaften Schiffsbelegschaft ausmacht ("Den amerikanischen Touristen, ganz besonders in der Gruppe, umgibt die Aura eines Herdentiers, eine geradezu bovine Ausstrahlung"), nichts von "Captain Video", dem Jungen mit dem Toupet oder der unglaublichen "Spaßolympiade" unter dem Kommando des noch viel unglaublicheren Cruise Directors Scott Peterson berichten, nein, ich will nur aus dem ersten Kapitel zitieren, das David Foster Wallace als furiose (und nicht zuviel versprechende) Ouvertüre angelegt hat: "Ich habe saccharinweiße Strände gesehen, Wasser von hellstem Azur. Ich habe einen knallroten Jogginganzug gesehen, mit extrabreitem Revers. Ich habe erfahren, wie Sonnenmilch riecht, wenn sie auf 21000 Pfund heißes Menschenfleisch verteilt wird. Ich bin in drei Ländern mit ›Mään‹ angeredet worden. Ich habe 500 amerikanischen Leistungsträgern beim Ententanz zugeschaut. […] Ich habe erwachsene US-Bürger aus dem gehobenen Mittelstand gehört, erfolgreiche Geschäftsleute, die am Info-Counter wissen wollten, ob man beim Schnorcheln naß wird, ob Skeetschießen im Freien stattfindet, ob die Crew ebenfalls an Bord schläft oder um welche Uhrzeit das Midnight-Buffet eröffnet wird." Wallace hat zum Glück noch viel mehr gesehen, und das sollten Sie selbst nachlesen, denn es wird von Wallace kein zweites Buch zu diesem Thema geben; das Standardwerk, erschienen im Mare-Buchverlag, heißt nämlich: "Schrecklich amüsant - aber in Zukunft ohne mich". |
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