Inhalt der Printausgabe

September 2006


Selbstgespräch
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Erst erkenne ich gar nichts, nur digitales Rauschen, blaue und grüne und braune Schatten, dann Wälder, mäandernde Flüsse, Schäfchenwolken und dann, ein paar Momente später, Städte, Berghänge und einen Vulkan, der Magma und todbringende Aschewolken spuckt. Indonesien. Ich sehe es mir immer wieder gerne mit »Google Earth« an.
Aber auch die Satellitenfotos von Schwabach kann man mit diesem Computerprogramm ansehen, 49°19’ nördlicher Breite, 11°02’ östlicher Länge kann ich meine Heimat ganz nah heranzoomen. Ob sie wohl noch immer so aschgrau und popelgrün ist wie damals, als ich sie verlassen habe? O ja, das ist sie. Erst saust das Autohaus Reimann mit angeflanschter Wohnetage auf mich zu, der aufgelassene Getränkemarkt Hertlein hinter dem Bahnhof an der B2, dann sehe ich die Aral-Tankstelle, wo dieser speckige Endfünfziger im Blaumann die besten »Heiße Hexe«-Burger westlich von Penzendorf in die Mikrowelle geschoben hat, und direkt dahinter die Avia-Tankstelle mit den Öltanks, wo ein anderer speckiger Endfünfziger einem für die großen Scheine, die man ihm gab, nur ganz kleine herausgab und ein bißchen Hartgeld. Wenn man genau hinschaut, könnte man sogar meinen, man sieht die Scheinwerfersplitter, die in die Tankstelleneinfahrt gestreut liegen wie Puderzucker auf einem Mohnkuchen aus Asphalt, weil die Einfahrt direkt hinter der Bahnüberführung so verdammt unübersichtlich ist. Aber so etwas sieht man zum Glück nicht.
Wenn ich auf die Landstraße Richtung Südosten zoome, vorbei an der Auffahrt auf die A6 und hinaus ins Gewerbegebiet, dann rieche ich wieder den verwechselbaren Supermarktgeruch des Einkaufskomplexes »Huma«, in dem es Wurst und Käse zu kaufen gab, Frisuren, Anziehklamotten und Autozubehör. Wenn ich den Eichwasen von oben sehe, spüre ich wieder den Fahrtwind in den Haaren, wenn ich zwischen den Hochhäusern durchgeradelt war, in denen die asozialen Itakerfamilien hausen mußten, während wir schön am Stadtrand im Einfamilienhaus mit
Garage nebendran wohnen durften. Und wenn ich den Stadtteil Vogelherd von nahem betrachte, schmecke ich wieder das Blut auf meinen Lippen, das ich mir einbildete, wenn ich mit einem frischen Topfschnitt auf dem Kopf aus Herrn Häußlers Frisörladen kam und für die Hauptschüler gerade der Nachmittagsunterricht vorbei war. Aber wirklich auf die Fresse bekommen habe ich natürlich nie. Ich, also jemand, der es wissen muß, habe einmal gesagt: Heimat, die kann mich mal kreuzweise. Aber kann sie mich das wirklich?


 
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Aktuelle Startcartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Boah ey, Natur!

»Mit der Anpflanzung von Bäumen im großen Stil soll das Klima geschützt werden«, schreibt der Spiegel. »Jetzt zeigen drei Wissenschaftlerinnen in einer Studie: Die Projekte können unter Umständen mehr schaden als nützen.« Konkret sei das Ökosystem Savanne von der Aufforstung bedroht. Mal ganz unverblümt gefragt: Kann es sein, liebe Natur, dass man es Dir einfach nicht recht machen kann? Wir Menschen bemühen uns hier wirklich um Dich, Du Diva, und am Ende ist es doch wieder falsch!

Wird mit Dir einfach nicht grün: Titanic

 Wie bitte, Extremismusforscher Matthias Quent?

Im Interview mit der Tagesschau vertraten Sie die Meinung, Deutschland habe »viel gelernt im Umgang mit Hanau«. Anlass war der Jahrestag des rassistischen Anschlags dort. Das wüssten wir jetzt aber doch gern genauer: Vertuschung von schrecklichem Polizeiverhalten und institutionellem Rassismus konnte Deutschland doch vorher auch schon ganz gut, oder?

Hat aus Ihren Aussagen leider wenig gelernt: Titanic

 Dear Weltgeist,

das hast Du hübsch und humorvoll eingerichtet, wie Du an der Uni Jena Deiner dortigen Erfindung gedenkst! Und auch des Verhältnisses von Herr und Knecht, über das Hegel ebenfalls ungefähr zur Zeit Deiner Entstehung sinnierte. Denn was machst Du um die 200 Jahre später, lieber Weltgeist? Richtest an Deiner Alma Mater ein Master-Service-Zentrum ein. Coole Socke!

Meisterhafte Grüße von Deiner Titanic

 Anpfiff, Max Eberl!

Sie sind seit Anfang März neuer Sportvorstand des FC Bayern München und treten als solcher in die Fußstapfen heikler Personen wie Matthias Sammer. Bei der Pressekonferenz zu Ihrer Vorstellung bekundeten Sie, dass Sie sich vor allem auf die Vertragsgespräche mit den Spielern freuten, aber auch einfach darauf, »die Jungs kennenzulernen«, »Denn genau das ist Fußball. Fußball ist Kommunikation miteinander, ist ein Stück weit, das hört sich jetzt vielleicht pathetisch an, aber es ist Liebe miteinander! Wir müssen alle was gemeinsam aufbauen, wo wir alle in diesem gleichen Boot sitzen.«

Und dieser schräge Liebesschwur, Herr Eberl, hat uns sogleich ungemein beruhigt und für Sie eingenommen, denn wer derart selbstverständlich heucheln, lügen und die Metaphern verdrehen kann, dass sich die Torpfosten biegen, ist im Vorstand der Bayern genau richtig.

Von Anfang an verliebt für immer: Titanic

 Persönlich, Ex-Bundespräsident Joachim Gauck,

nehmen Sie inzwischen offenbar alles. Über den russischen Präsidenten sagten Sie im Spiegel: »Putin war in den Achtzigerjahren die Stütze meiner Unterdrücker.« Meinen Sie, dass der Ex-KGBler Putin und die DDR es wirklich allein auf Sie abgesehen hatten, exklusiv? In dem Gespräch betonten Sie weiter, dass Sie »diesen Typus« Putin »lesen« könnten: »Ich kann deren Herrschaftstechnik nachts auswendig aufsagen«.

Allerdings hielten Sie sich bei dessen Antrittsbesuch im Schloss Bellevue dann »natürlich« doch an die »diplomatischen Gepflogenheiten«, hätten ihm aber »schon zu verstehen gegeben, was ich von ihm halte«. Das hat Putin wahrscheinlich sehr erschreckt. So richtig Wirkung entfaltet hat es aber nicht, wenn wir das richtig lesen können. Wie wär’s also, Gauck, wenn Sie es jetzt noch mal versuchen würden? Lassen Sie andere Rentner/innen mit dem Spiegel reden, schauen Sie persönlich in Moskau vorbei und quatschen Sie Putin total undiplomatisch unter seinen langen Tisch.

Würden als Dank auf die Gepflogenheit verzichten, Ihr Gerede zu kommentieren:

die Diplomat/innen von der Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Dünnes Eis

Zwei Männer in Funktionsjacken draußen vor den Gemüsestiegen des türkischen Supermarkts. Der eine zeigt auf die Peperoni und kichert: »Hähä, willst du die nicht kaufen?« Der andere, begeistert: »Ja, hähä! Wenn der Esel dich juckt – oder nee, wie heißt noch mal der Spruch?«

Mark-Stefan Tietze

 Kehrwoche kompakt

Beim Frühjahrsputz verfahre ich gemäß dem Motto »quick and dirty«.

Michael Höfler

 Kapitaler Kalauer

Da man mit billigen Wortspielen ja nicht geizen soll, möchte ich hier an ein großes deutsches Geldinstitut erinnern, das exakt von 1830 bis 1848 existierte: die Vormärzbank.

Andreas Maier

 Man spürt das

Zum ersten Mal in meinem Leben war ich in New York. Was soll ich sagen: Da war sofort dieses Gefühl, als ich zum ersten Mal die 5th Avenue hinunterflanierte! Entweder man spürt das in New York oder man spürt es eben nicht. Bei mir war sie gleich da, die Gewissheit, dass diese Stadt einfach null Charme hat. Da kann ich genauso gut zu Hause in Frankfurt-Höchst bleiben.

Leo Riegel

 Neulich

erwartete ich in der Zeit unter dem Titel »Glückwunsch, Braunlage!« eigentlich eine Ode auf den beschaulichen Luftkurort im Oberharz. Die kam aber nicht. Kein Wunder, wenn die Überschrift des Artikels eigentlich »Glückwunsch, Braunalge!« lautet!

Axel Schwacke

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

Titanic unterwegs
25.04.2024 Köln, Comedia Max Goldt
27.04.2024 Schwerin, Zenit Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
28.04.2024 Lübeck, Kolosseum Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
29.04.2024 Berlin, Berliner Ensemble Martin Sonneborn mit Sibylle Berg