Inhalt der Printausgabe

Juni 2006


Titten, Toppen, Querschläger
aus der Welt der neusten Vulgarität
(Seite 3 von 4)

»... seitdem die Welt verrohte«
(Else Lasker-Schüler)
»Du bist Deutschland«: die Nonsensbotschaft der Nation konterkariert seit 2003 fast sakral das profane »Geiz ist geil«, das aber erst in der McDonald’s-Reklame zur Jahreswende 2006/06 »Schnauze voll für 1 Ä « (für einen Hamburger, von einem entfernt menschenähnlichen Wesen weggefressen) vor dem geschichtlichen Hintergrund langjähriger McDonald’s-Vulgaritätstradition seine Erfüllung findet. Die Bild-Zeitung setzt am 13.2.06 mit dem zur Headline geronnenen neologistischen Neuberuf des »Puff-Politikers« ein Äquivalent an Drecksgesinnung drauf – der sowohl inhaltlich wie sprachästhetisch nicht mehr zu toppende Aufmacher stand aber schon zwei Wochen vorher überm Blatt: »Extremster Winter aller Zeiten« (26.1.) – na, sagen wir korrekter: seit der Jahreswende von 3012 auf 13 v. Chr.
Insofern stimmt aber auch wieder und noch immer beinahe heiter, was jene ZDF-Reporterin zur Millenniumswende anläßlich eines steirischen Grubenunglücks ins Mikrophon gekräht hatte: »Es bleibt weiter spannend!« Nämlich, ob die halbe Hundertschaft im Berg eingeschlossener Kumpel evtl. doch noch rauskommen könnte; sie kam nicht, irgendwann verwich die Spannung. Rechtens aber übernahm die Formulierung wörtlich der BR-Reporter im Januar angesichts der Trümmer und der noch nicht restlos vorgefundenen Toten von Bad Reichenhall – »spannend« blieb auch darüber hinaus im gesamten letzten Jahrzehnt das Idiotenwort der Zeit und Nation, so daß auch noch bei den infernalischen Dämlichkeiten der in Berlin von der Wagner-Urenkelin Katharina im Dezember 2005 veranstalteten und nur mehr entfernt an Puccini gemahnenden »Trittico«-Regie der zuständige Bürgermeister Wowereit von »spannendem Theater« zu loben vermochte – jawohl, »spannend« behauptete auch und gerade im bisherigen Mozartjahr eine Spitzenblödianität, knapp vor den ebenso vertrauten Alltagszumutungen »pur«, »super«, »Wahnsinn«, »Traum« und dem Newcomer des Jahres 2005, nach dem ständig irgendwelche Leute anderen »auf Augenhöhe« begegnen; so noch laut Spiegel (1/06, S.51) die Deutschen den Amis und also Merkel Bush jr., ohne diesem gleich die Arschkarte zu zeigen. Andererseits muß es auch Unterschiede geben, etwa: »Das Dies Irae aus dem Mozart-Requiem, neu eingespielt von Harnoncourt – das ist spitze, das ist nicht mehr zu toppen« (Klassik-Radio Bayern), und zwar ultimativ und im Zuge nicht nachlassenden ungemein gemeinen Geschmarres aus dem unbarmherzig nimmermüden Kasten.
Pur und ultimativ narrisch geworden aber ist 2005 schon Th. Gottschalk. Er fühlte sich kraft seiner Kamerapräsenz für die Salzburger Netrebko-»Traviata« ebenso zuständig wie kurz zuvor für den neuen und schauerlichen Bayreuther »Tristan«. Über den nämlich, über den »Lover« Tristan, teilte er in der Bunten (32/05) mit, er habe dort, am Grünen Hügel, »Leidenschaft pur und Wagners Musik mit tosender Wucht erlebt … aber das war’s dann auch mit dem Liebesrausch« –
– für den aber auch 2006/06 wieder die pralle Feminität doch vielleicht sogar noch draller einsteht als das Gegenteil samt Gottschalk. Und also auch für allerlei ultimativst extremst getoppste Neo-Mega-Vulgaria im Verbalrevier: »Kelly, das Schleckermäulchen« läßt in Bild vom 3.2.06 ihre nackichten Tittchen ebd. »schnell schwubbeidiwupp wieder verschwinden«; Miß Deutschland Daniela ist am 21.1. »superglücklich« über ihren Titel; »Kommunikationsfachfrau« Cora Schumacher dagegen gibt in der Welt am Sonntag gleichfalls noch im Januar zu: »Büchermäßig bin ich auch nicht so lesetechnisch unterwegs«, meint, wie die Base-freedom-of-speech-Reklameblonde noch in der nämlichen Woche für sie einspringt: »Ich sag’, was ich will – und mit meiner Handy-Flat-rate soviel ich will!«



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Aktuelle Startcartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Aaaaah, Bestsellerautor Maxim Leo!

In Ihrem neuen Roman »Wir werden jung sein« beschäftigen Sie sich mit der These, dass es in nicht allzu ferner Zukunft möglich sein wird, das maximale Lebensalter von Menschen mittels neuer Medikamente auf 120, 150 oder sogar 200 Jahre zu verlängern. Grundlage sind die Erkenntnisse aus der sogenannten Longevity-Forschung, mit denen modernen Frankensteins bereits das Kunststück gelang, das Leben von Versuchsmäusen beträchtlich zu verlängern.

So verlockend der Gedanke auch ist, das Finale der Fußballweltmeisterschaft 2086 bei bester Gesundheit von der heimischen Couch aus zu verfolgen und sich danach im Schaukelstuhl gemütlich das 196. Studioalbum der Rolling Stones anzuhören – wer möchte denn bitte in einer Welt leben, in der das Gerangel zwischen Joe Biden und Donald Trump noch ein ganzes Jahrhundert so weitergeht, der Papst bis zum Jüngsten Gericht durchregiert und Wladimir Putin bei seiner Kolonisierung auf andere Planeten zurückgreifen muss? Eines will man angesichts Ihrer Prognose, dass es bis zum medizinischen Durchbruch »im besten Fall noch 10 und im schlimmsten 50 Jahre dauert«, ganz bestimmt nicht: Ihren dystopischen Horrorschinken lesen!

Brennt dann doch lieber an beiden Enden und erlischt mit Stil: Titanic

 Waidmannsheil, »Spiegel«!

»Europas verzweifelte Jagd nach Munition«, titeltest Du, und doch könnte es deutlich schlimmer sein. Jagd auf Munition – das wäre, so ganz ohne diese Munition, deutlich schwieriger!

Nimmt Dich gerne aufs Korn: Titanic

 Eine Frage, Miriam Meckel …

Im Spiegel-Interview sprechen Sie über mögliche Auswirkungen künstlicher Intelligenz auf die Arbeitswelt. Auf die Frage, ob die Leute in Zukunft noch ihr Leben lang im gleichen Beruf arbeiten werden, antworten Sie: »Das ist ja heute schon eher die Ausnahme. Ich zum Beispiel habe als Journalistin angefangen. Jetzt bin ich Professorin und Unternehmerin. Ich finde das toll, ich liebe die Abwechslung.« Ja, manchmal braucht es einfach einen beruflichen Tapetenwechsel, zum Beispiel vom Journalismus in den Fachbereich Professorin! Aber gibt es auch Berufe, die trotz KI Bestand haben werden? »Klempner zum Beispiel. Es gibt bislang keinen Roboter mit noch so ausgefeilter KI auf der Welt, der Klos reparieren kann.«

Das mag sein, Meckel. Aber was, wenn die Klempner/innen irgendwann keine Lust mehr auf den Handwerkeralltag haben und flugs eine Umschulung zum Professor machen? Wer repariert dann die Klos? Sie?

Bittet jetzt schon mal um einen Termin: Titanic

 Ach, Taube,

Ach, Taube,

die Du in Indien wegen chinesischer Schriftzeichen auf Deinen Flügeln acht Monate in Polizeigewahrsam verbracht hast: Deine Geschichte ging um die Welt und führte uns vor Augen, wozu die indische Fashion-Polizei fähig ist. Aufgrund Deiner doch sehr klischeehaften Modetattoos (chinesische Schriftzeichen, Flügel) fragen wir uns aber, ob Du das nicht alles inszeniert hast, damit Du nun ganz authentisch eine Träne unter dem Auge oder ein Spinnennetz auf Deinem Ellenbogen (?) tragen kannst!

Hat Dein Motiv durchschaut: Titanic

 Dear Weltgeist,

das hast Du hübsch und humorvoll eingerichtet, wie Du an der Uni Jena Deiner dortigen Erfindung gedenkst! Und auch des Verhältnisses von Herr und Knecht, über das Hegel ebenfalls ungefähr zur Zeit Deiner Entstehung sinnierte. Denn was machst Du um die 200 Jahre später, lieber Weltgeist? Richtest an Deiner Alma Mater ein Master-Service-Zentrum ein. Coole Socke!

Meisterhafte Grüße von Deiner Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Kapitaler Kalauer

Da man mit billigen Wortspielen ja nicht geizen soll, möchte ich hier an ein großes deutsches Geldinstitut erinnern, das exakt von 1830 bis 1848 existierte: die Vormärzbank.

Andreas Maier

 Tiefenpsychologischer Trick

Wenn man bei einem psychologischen Test ein Bild voller Tintenkleckse gezeigt bekommt, und dann die Frage »Was sehen Sie hier?« gestellt wird und man antwortet »einen Rorschachtest«, dann, und nur dann darf man Psychoanalytiker werden.

Jürgen Miedl

 Parabel

Gib einem Mann einen Fisch, und du gibst ihm zu essen für einen Tag. Zeig ihm außerdem, wie man die Gräten entfernt, und er wird auch den folgenden Morgen erleben.

Wieland Schwanebeck

 Bilden Sie mal einen Satz mit Distanz

Der Stuntman soll vom Burgfried springen,
im Nahkampf drohen scharfe Klingen.
Da sagt er mutig: Jetzt mal ehrlich –
ich find Distanz viel zu gefährlich!

Patrick Fischer

 Dünnes Eis

Zwei Männer in Funktionsjacken draußen vor den Gemüsestiegen des türkischen Supermarkts. Der eine zeigt auf die Peperoni und kichert: »Hähä, willst du die nicht kaufen?« Der andere, begeistert: »Ja, hähä! Wenn der Esel dich juckt – oder nee, wie heißt noch mal der Spruch?«

Mark-Stefan Tietze

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

Titanic unterwegs
25.04.2024 Köln, Comedia Max Goldt
27.04.2024 Schwerin, Zenit Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
28.04.2024 Lübeck, Kolosseum Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
29.04.2024 Berlin, Berliner Ensemble Martin Sonneborn mit Sibylle Berg