Inhalt der Printausgabe

Januar 2006


Musik
Der Junge mit der Ziehharmonika
(Seite 2 von 3)

Zwielicht fällt wie ein mißlungener Akkord durchs Fenster. Florian Silbereisen sieht müde aus. Vielleicht möchte er gerne ein Nickerchen machen. Oder sich die Quetsche schnappen und so richtig laut losmusizieren, weil er lieber Lärm macht als drüber zu reden. Statt dessen sagt er: „Ich habe viele Preise bekommen, auch die ,Krone der Volksmusik‘, aber für mich sind diese Pokale nicht so wichtig. Stolz bin ich auf die Anerkennung als sympa-thischster Einzelkünstler. Das bedeutet mir sehr viel, weil das keine Jury ausgewertet hat, sondern die Fans, die auf der Straße gefragt worden sind. Wie man das Herz der Menschen gewinnt, ist für mich sehr wichtig und viel schöner.„
Kaum hat Florian Silbereisen den Satz zu Ende gesprochen, kommt ein junger Mann an den Tisch. Er ist rot im Gesicht und sieht nicht so aus, als verwende er Alkohol nur zum Desinfizieren. Vielleicht ist er betrunken. Ehrfürchtig streckt er seine Hand, es ist eher eine Pranke, über den Tisch und läßt sie unvermittelt und mit großem Krach auf die Tischplatte fallen. „Herst, Flori„, sagt der junge Mann, „kumm, nur an Zehner, bis morgen, du host as doch, bittschön. Du host as doch, du mit deiner scheiß… deiner scheiß Musi, du… uuuuuäääaaaah…. sakradi, is mir schlecht jetzad…„
Florian Silbereisen schaut drein, als werde er nicht alle Tage vollgekotzt.
„Es stimmt auch nicht, daß junge Leute diese Musik nicht hören wollen", sagt Florian Silbereisen mehr zu sich selbst und wringt sein Hemd aus. „Das Problem ist der Gruppen-zwang, der hier in Deutschland herrscht, und es sich keiner traut, diese Musik zu hören. Mir macht es einfach wahnsinnig Spaß, ich bin damit großgeworden und höre sehr gern deutschsprachige Musik.“
Die Zeit scheint stillzustehen in diesem Moment. Am Nebentisch liest eine sichtlich Einheimische in einem alten „Spiegel“, vielleicht irgendeinen prätentiösen Angeberscheiß von Alexander Osang mit vielen Absätzen und „vielleichts“ drin. Draußen werden ein paar Säue durchs Dorf gejagt, ihr wildes Quieken ist deutlich zu hören. Verstohlen lugt Florian Silbereisen zur Musikbox. Wer da wohl seinen neuesten Hit „Auf die Länge kommt’s nicht an“ gedrückt hat?
Florian im Glück.
Es ist eine typische Volksmusikerkarriere: Mit drei bekommt Florian Silbereisen seine erste Harmonika geschenkt, mit sieben nimmt er seine erste Platte auf: „Die Mama hat den Schnaps versteckt“. Mit acht wird er eingeschult, mit neun verschafft ihm Karl Moik einen vielbeachteten Auftritt in „Aktenzeichen XY ungelöst“, mit vierzehn wird dann auch mal gebusserlt. Die Mama, versteht sich.
Überhaupt, die Mama.
„Mit meiner Mutter kann ich alles besprechen“, sagt Florian Silbereisen, „von Sex bis Krisen.“
Florian Silbereisen schaut jetzt wie einer, der immer alles mit Mama besprochen hat. Sex. Krisen. Sexkrisen. Wie ihm mal im Heuschober die Lederhose zu eng wurde, als er und die dralle Vroni vom Huberbauern sich schüchtern zeigten, was sie hatten: er einen kleinen Mutterkomplex, sie eine große Tüte Treets, die sie dann gemeinsam auf aßen. Oder wie Ireen Sheer ihm hinter der Bühne erklären mußte, daß nicht der Storch die Kinder bringt, sondern der Frank Schirrmacher.



Silbereisen-Show:
Populärmusik als gnadenlos faschistische Distinktionsmaschine


    1 | 2 | 3   


Aktuelle Startcartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Gude, Fregatte »Hessen«!

Du verteidigst Deutschlands Demokratie zur Zeit im Roten Meer, indem Du Handelsrouten vor der Huthi-Miliz schützt. Und hast schon ganz heldenhaft zwei Huthi-Drohnen besiegt.

Allerdings hast Du auch aus Versehen auf eine US-Drohne geschossen, und nur einem technischen Fehler ist es zu verdanken, dass Du nicht getroffen hast. Vielleicht ein guter Grund für die USA, doch nicht auf der Erfüllung des Zwei-Prozent-Ziels zu beharren!

Doppelwumms von Titanic

 Dear Weltgeist,

das hast Du hübsch und humorvoll eingerichtet, wie Du an der Uni Jena Deiner dortigen Erfindung gedenkst! Und auch des Verhältnisses von Herr und Knecht, über das Hegel ebenfalls ungefähr zur Zeit Deiner Entstehung sinnierte. Denn was machst Du um die 200 Jahre später, lieber Weltgeist? Richtest an Deiner Alma Mater ein Master-Service-Zentrum ein. Coole Socke!

Meisterhafte Grüße von Deiner Titanic

 Kurz hattet Ihr uns, liebe Lobos,

Kurz hattet Ihr uns, liebe Lobos,

als Ihr eine Folge Eures Pärchenpodcasts »Feel the News« mit »Das Geld reicht nicht!« betiteltet. Da fragten wir uns, was Ihr wohl noch haben wollt: mehr Talkshowauftritte? Eine Homestory in der InTouch? Doch dann hörten wir die ersten zwei Minuten und erfuhren, dass es ausnahmsweise nicht um Euch ging. Ganz im Sinne Eures Formats wolltet Ihr erfühlen, wie es ist, Geldsorgen zu haben, und über diese Gefühle dann diskutieren. Im Disclaimer hieß es dann noch, dass Ihr ganz bewusst über ein Thema sprechen wolltet, das Euch nicht selbst betrifft, um dem eine Bühne zu bieten.

Ihr als Besserverdienerpärchen mit Loft in Prenzlauer Berg könnt ja auch viel neutraler und besser beurteilen, ob diese Armutsängste der jammernden Low Performer wirklich angebracht sind. Leider haben wir dann nicht mehr mitbekommen, ob unser Gefühl, Geldnöte zu haben, berechtigt ist, da wir gleichzeitig Regungen der Wohlstandsverwahrlosung und Realitätsflucht wahrnahmen, die wir nur durch das Abschalten Eures Podcasts loswerden konnten.

Beweint deshalb munter weiter den eigenen Kontostand: Titanic

 Du, »Deutsche Welle«,

betiteltest einen Beitrag mit den Worten: »Europäer arbeiten immer weniger – muss das sein?« Nun, wir haben es uns wirklich nicht leicht gemacht, ewig und drei Tage überlegt, langjährige Vertraute um Rat gebeten und nach einem durchgearbeiteten Wochenende schließlich die einzig plausible Antwort gefunden. Sie lautet: ja.

Dass Du jetzt bitte nicht zu enttäuscht bist, hoffen die Workaholics auf

Deiner Titanic

 Wussten wir’s doch, »Heute-Journal«!

Deinen Bericht über die Ausstellung »Kunst und Fälschung« im Kurpfälzischen Museum in Heidelberg beendetest Du so: »Es gibt keine perfekte Fälschung. Die hängen weiterhin als Originale in den Museen.«

Haben Originale auch schon immer für die besseren Fälschungen gehalten:

Deine Kunsthistoriker/innen von der Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Einmal und nie wieder

Kugelfisch wurde falsch zubereitet. Das war definitiv meine letzte Bestellung.

Fabian Lichter

 Tiefenpsychologischer Trick

Wenn man bei einem psychologischen Test ein Bild voller Tintenkleckse gezeigt bekommt, und dann die Frage »Was sehen Sie hier?« gestellt wird und man antwortet »einen Rorschachtest«, dann, und nur dann darf man Psychoanalytiker werden.

Jürgen Miedl

 Neulich

erwartete ich in der Zeit unter dem Titel »Glückwunsch, Braunlage!« eigentlich eine Ode auf den beschaulichen Luftkurort im Oberharz. Die kam aber nicht. Kein Wunder, wenn die Überschrift des Artikels eigentlich »Glückwunsch, Braunalge!« lautet!

Axel Schwacke

 Man spürt das

Zum ersten Mal in meinem Leben war ich in New York. Was soll ich sagen: Da war sofort dieses Gefühl, als ich zum ersten Mal die 5th Avenue hinunterflanierte! Entweder man spürt das in New York oder man spürt es eben nicht. Bei mir war sie gleich da, die Gewissheit, dass diese Stadt einfach null Charme hat. Da kann ich genauso gut zu Hause in Frankfurt-Höchst bleiben.

Leo Riegel

 Frühlingsgefühle

Wenn am Himmel Vögel flattern,
wenn in Parks Familien schnattern,
wenn Paare sich mit Zunge küssen,
weil sie das im Frühling müssen,
wenn überall Narzissen blühen,
selbst Zyniker vor Frohsinn glühen,
Schwalben »Coco Jamboo« singen
und Senioren Seilchen springen,
sehne ich mich derbst
nach Herbst.

Ella Carina Werner

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

Titanic unterwegs
25.04.2024 Köln, Comedia Max Goldt
27.04.2024 Schwerin, Zenit Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
28.04.2024 Lübeck, Kolosseum Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
29.04.2024 Berlin, Berliner Ensemble Martin Sonneborn mit Sibylle Berg