Inhalt der Printausgabe
Januar 2006
Vom Fachmann für Kenner (Seite 6 von 16) |
Kummertelefon Hin und wieder rufen in der TITANIC-Redaktion Menschen an, um deren seelische Verfassung es nicht zum Besten steht und die darüber gerne reden wollen; so vor wenigen Tagen ein mental offenbar indisponierter junger Mann. Er frug TITANIC-Art Director Thomas Hintner, der zufällig abgehoben hatte, ob er »fünf Minuten Zeit« habe. Hintner faßte sich ein Herz, nahm einen großen Schluck Bier und hörte dem Anrufer zu, der nun begann, vom Einsitzen in einer psychischen Anstalt zu berichten, von alltäglichen Schikanen und täglichen Arbeitsverpflichtungen von sieben Uhr bis zwölf Uhr – mehr habe er, der zu fünfzig Prozent psychisch behindert sei, nicht geschafft. Am Arbeitsplatz, von sieben bis zwölf, habe von den Einsitzenden nichts gegessen und getrunken werden dürfen, die Betreuer hingegen seien hinter ihren dicken Glasscheiben faul herumgesessen und hätten den Tag hindurch nach Herzenslust Brote und mitgebrachtes Obst verzehrt und Zigaretten geraucht, und zwar durchaus am Arbeitsplatz. Er erzählte dem immer unruhiger werdenden Hintner von den Gemeinheiten, denen er ausgesetzt gewesen sei, davon habe er, Hintner, keine Vorstellung. Das frühe Aufstehen, die hygienischen Bedingungen im Waschraum, die Eintönigkeit der Mahlzeiten! Besuchsreglementierungen! Schwierigkeiten mit der Lektürebeschaffung! Und was er alles habe unterschreiben müssen! Zum Beispiel die Erklärung, er werde niemandem ein Sterbenswörtchen darüber verraten, woran sie da arbeiteten; totale Geheimhaltung sei von oben verfügt worden. Und dann die Toiletten! Die Toiletten…!, so der Anrufer geheimnisvoll weiter. Hintner wurde nun doch sehr unruhig, das Gespräch dauerte mittlerweile gut zehn Minuten, und um den Redefluß seines Gegenübers ein wenig einzudämmen und rhetorisch wieder Boden zu gewinnen, fragte er: Warum der Anrufer denn in diese Einrichtung hineingesperrt worden sei? Und der sagte: wegen telefonischer Belä stigungen. Und legte grußlos auf.
Oliver Nagel
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