Inhalt der Printausgabe
Januar 2006
Vom Fachmann für Kenner (Seite 3 von 16) |
Marketing am Abgrund Im ICE auf dem Platz gegenüber sitzt ein vielleicht 15jähriger, der offensichtlich tief in die Wirrungen der Pubertät verstrickt ist. Entschlossen bemüht er sich, gleichzeitig extrem cool und äußerst furchteinflößend zu gucken. Der aufgedrehte iPod beschallt den Großraumwagen mit irgendwelchem Gangsta-Hiphop. So dröhnt er die gesamte Strecke Hamburg-Dammtor bis Berlin-Zoologischer Garten unbehelligt vor sich hin, bis kurz vor der Ankunft eine Bedienstete der Bahn, etwa Anfang 20, den Gang entlang schreitet, ihn freundlich anblickt, ihm signalisiert, er möge mal die Knöpfe aus dem Ohr nehmen, was er mit sichtlichem Widerwillen nach der dritten Aufforderung auch tatsächlich macht, um sich dann von der ihn begeistert anstrahlenden Zugbegleiterin sagen zu lassen: »Na, du bist doch sicher auch noch ein Schulkind! Wir machen eine Sonderaktion heute!« Und dann drückt sie dem Jungen, der sie entsetzt anstarrt, ein Stückchen Schokolade in die Hand, mit derart arglosem Lächeln, daß dieser in seinem Schrecken versehentlich laut und vernehmlich antwortet: »Äh… vielen Dank.« Die junge Frau eilt schon längst in Richtung des nächsten Wagens davon, während er fassungslos sein Schoki-Stück betrachtet, sich dann vorsichtig umsieht und dabei in die breit grinsenden Gesichter von u. a. mir blickt. Ob der von der Bahn vermutlich angestrebte Effekt der Kundenbindung auf diese Weise wirklich erreicht werden kann – ich weiß ja nicht.
Heiko Werning
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