Inhalt der Printausgabe

August 2006


Humorkritik
(Seite 4 von 11)

Zur Dialektik des Wortspiels
»Der Arzt sprach zu Trudlinden:/›Ich kann Sie nicht entbinden./Es setzen zwar John Wayne ein,/Doch brauch’ ich erst den Krankenschein.‹« Mit diesem und einigen anderen »Versen von der Brechstange« ist Heinrich von Gyldenfeldt in der von Robert Gernhardt und Klaus Cäsar Zehrer herausgegebenen Anthologie komischer deutscher Gedichte aus fünf Jahrhunderten vertreten (»Hell und schnell«, S. Fischer). Wie TITANIC-Leser wissen, haben die Herausgeber vor kurzem alle Welt dazu aufgerufen, dem Autor nachzueifern. Auch als alter Mann bin ich immer noch zwölfjährig genug, um mich auf die Ausbeute zu freuen. Bilden Sie doch bitte mal einen Vers mit Lenin, Herr von Gyldenfeldt! »›Opa ’s voll bis an den Rand!‹/›Dann Lenin einfach an die Wand.‹«
Was mich an solchen Versen erheitert, ist ihre unbekümmerte Albernheit. Eine politische, antiautoritäre Schlagseite bekommen sie nur dort, wo die verballhornten Eigennamen und Begriffe ideologischen Ehrenschutz genießen und wo Schabernack als Delikt gilt: In der DDR wäre Heinrich von Gyldenfeldt für seinen harmlosen Scherz über Lenin zielsicher in den Kahn gewandert, während im freien Westen eine freche Bemerkung über den Geschmack von Freiheit und Adenauer früher einmal äußerstenfalls einen Eintrag ins Klassenbuch und spätestens seit ca. 1980 ein Engagement bei einer Werbeagentur nach sich gezogen hätte. In der Bundesrepublik waren Wortspiele erlaubt, ja erwünscht, auch die blödesten und miserabelsten, und so kam es zu Kabarettprogrammtiteln wie »Maden in Germany« und zu Truppennamen wie »Die Niegelungen« und »Die Ma(Ka)ba-Rettiche sich wer kann« und zu noch zwölftausend übleren Greueltaten an der deutschen Sprache.
Den feinen Unterschied zwischen quälenden und belustigenden Wortspielen erkenne ich daran, ob ich mich vor Schmerzen oder vor Lachen krümme. Schmerzen fügen mir erfahrungsgemäß Wortspiele zu, in denen sich ihre Urheber als linke Sozialdemokraten zu erkennen geben, die vor einem Vierteljahrhundert um »Sonne statt Reagan« gebettelt haben. Lustiger ist jederzeit der anarchistische Klassiker Heinrich von Gyldenfeldt: »›Mein Herr, wo ist der Eintrittsschein?/Sokrates kommt man hier nicht rein!‹« Das Schaurigschönste an solchen Brechstangenversen ist vielleicht die Gewißheit, daß der Verfasser sich beim Verfassen über die bodenlose Dämlichkeit seiner Wortspiele im klaren war. Einen Eigennamen wie »Die Niegelungen« können dahingegen nur Originaltrottel ausgebrütet haben, denen es in diesem Leben nicht mehr gelingen wird, ein Gespür für die Peinlichkeit ihrer krampfhaften Bemühung um ein entzückendes Wortspiel auszubilden.
Nur ein einziges Mal, schrieb im Jahre 1924 der von Marcel Reich-Ranicki hochverehrte kongeniale Literaturpapst und Reich-Ranicki-Vorgänger Alfred Kerr, finde sich in Richard Wagners Äußerungen das Wort »Käfer«, nämlich in Wagners »heiterem«, in Palermo getätigtem Ausruf: »Nu aber kee vernünftiges Wort mähr!« Finden Sie das witzig? Können Sie das ertragen? Oder sogar beschmunzeln? Oder rollen sich da auch bei Ihnen, so wie bei mir, vor Grusel die Fußnägel einwärts auf wie von Gespensterhand manipulierte Heringsdosendeckel?
Als Gefangener der Wortspielhölle gebe ich diese Fragen an die nächste Generation weiter und wasche meine Handke in Unseld.




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Aktuelle Startcartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Sie, Victoria Beckham,

Sie, Victoria Beckham,

behaupteten in der Netflix-Doku »Beckham«, Sie seien »working class« aufgewachsen. Auf die Frage Ihres Ehemanns, mit welchem Auto Sie zur Schule gefahren worden seien, gaben Sie nach einigem Herumdrucksen zu, es habe sich um einen Rolls-Royce gehandelt. Nun verkaufen Sie T-Shirts mit dem Aufdruck »My Dad had a Rolls-Royce« für um die 130 Euro und werden für Ihre Selbstironie gelobt. Wir persönlich fänden es sogar noch mutiger und erfrischender, wenn Sie augenzwinkernd Shirts mit der Aufschrift »My Husband was the Ambassador for the World Cup in Qatar« anbieten würden, um den Kritiker/innen so richtig den Wind aus den Segeln zu nehmen.

In der Selbstkritik ausschließlich ironisch: Titanic

 Boah ey, Natur!

»Mit der Anpflanzung von Bäumen im großen Stil soll das Klima geschützt werden«, schreibt der Spiegel. »Jetzt zeigen drei Wissenschaftlerinnen in einer Studie: Die Projekte können unter Umständen mehr schaden als nützen.« Konkret sei das Ökosystem Savanne von der Aufforstung bedroht. Mal ganz unverblümt gefragt: Kann es sein, liebe Natur, dass man es Dir einfach nicht recht machen kann? Wir Menschen bemühen uns hier wirklich um Dich, Du Diva, und am Ende ist es doch wieder falsch!

Wird mit Dir einfach nicht grün: Titanic

 Lustiger Zufall, »Tagesspiegel«!

»Bett, Bücher, Bargeld – wie es in der Kreuzberger Wohnung von Ex-RAF-Terroristin Daniela Klette aussah«. Mit dieser Schlagzeile überschreibst Du Deine Homestory aus Berlin. Ha, exakt so sieht es in unseren Wohnungen auch aus! Komm doch gern mal vorbei und schreib drüber. Aber bitte nicht vorher die Polizei vorbeischicken!

Dankend: Titanic

 Vielleicht, Ministerpräsident Markus Söder,

sollten Sie noch einmal gründlich über Ihren Plan nachdenken, eine Magnetschwebebahn in Nürnberg zu bauen.

Sie und wir wissen, dass niemand dieses vermeintliche High-Tech-Wunder zwischen Messe und Krankenhaus braucht. Außer eben Ihre Spezln bei der Baufirma, die das Ding entwickelt und Ihnen schmackhaft gemacht haben, auf dass wieder einmal Millionen an Steuergeld in den privaten Taschen der CSU-Kamarilla verschwinden.

Ihr Argument für das Projekt lautet: »Was in China läuft, kann bei uns nicht verkehrt sein, was die Infrastruktur betrifft.« Aber, Söder, sind Sie sicher, dass Sie wollen, dass es in Deutschland wie in China läuft? Sie wissen schon, dass es dort mal passieren kann, dass Politiker/innen, denen Korruption vorgeworfen wird, plötzlich aus der Öffentlichkeit verschwinden?

Gibt zu bedenken: Titanic

 Hallo, faz.net!

»Seit dem Rückzug von Manfred Lamy«, behauptest Du, »zeigt der Trend bei dem Unternehmen aus Heidelberg nach unten. Jetzt verkaufen seine Kinder die Traditionsmarke für Füller und andere Schreibutensilien.« Aber, faz.net: Haben die Lamy-Kinder nicht gerade davon schon mehr als genug?

Schreibt dazu lieber nichts mehr: Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Pendlerpauschale

Meine Fahrt zur Arbeit führt mich täglich an der Frankfurt School of Finance & Management vorbei. Dass ich letztens einen Studenten beim Aussteigen an der dortigen Bushaltestelle mit Blick auf sein I-Phone laut habe fluchen hören: »Scheiße, nur noch 9 Prozent!« hat mich nachdenklich gemacht. Vielleicht wäre meine eigene Zinsstrategie selbst bei angehenden Investmentbankern besser aufgehoben.

Daniel Sibbe

 Überraschung

Avocados sind auch nur Ü-Eier für Erwachsene.

Loreen Bauer

 Treffer, versenkt

Neulich Jugendliche in der U-Bahn belauscht, Diskussion und gegenseitiges Überbieten in der Frage, wer von ihnen einen gemeinsamen Kumpel am längsten kennt, Siegerin: etwa 15jähriges Mädchen, Zitat: »Ey, ich kenn den schon, seit ich mir in die Hosen scheiße!«

Julia Mateus

 No pain, no gain

Wem platte Motivationssprüche helfen, der soll mit ihnen glücklich werden. »There ain’t no lift to the top« in meinem Fitnessstudio zu lesen, das sich im ersten Stock befindet und trotzdem nur per Fahrstuhl zu erreichen ist, ist aber wirklich zu viel.

Karl Franz

 Wenn beim Delegieren

schon wieder was schiefgeht, bin ich mit meinen Lakaien am Ende.

Fabio Kühnemuth

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

Titanic unterwegs
25.04.2024 Köln, Comedia Max Goldt
27.04.2024 Schwerin, Zenit Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
28.04.2024 Lübeck, Kolosseum Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
29.04.2024 Berlin, Berliner Ensemble Martin Sonneborn mit Sibylle Berg