Inhalt der Printausgabe

November 2005


Humorkritik
(Seite 4 von 7)

Komik aus dem Stand
Zunächst bei Hofe, später auch bei bürgerlichen Festivitäten, gab es die Tableaux vivants, die »Lebenden Bilder« zu bestaunen. Menschen aus Fleisch und Blut stellten Gemälde oder Statuen nach, bisweilen auch Scherz bilder, deren Statik durch pantomimische Gesten aufgelockert werden konnte. Nachfahren dieses Genres finden sich bisweilen im Kino: Als lebender Cartoon kann beispielsweise jene distinguierte Abendgesellschaft gelten, die sich in Luis Buñuels »Das Gespenst der Freiheit« von 1974 nicht zum Essen, sondern zum gepflegten Scheißen zusammensetzt.
Auch der höchst fruchtbaren Zusammenarbeit Gerhard Polts und Christian Müllers im Rahmen der 80er-Jahre Fernsehreihe »Fast wia im richtigen Leben« verdanken sich einige Szenerien dieser Art: »Der Lebensretter« etwa zeigt eine Schickeria-Party, die ein Mann zur Feier eben dieses Retters ausrichtet, wobei freilich die vermeintliche Hauptperson neben all dem fröhlichen Partygelärme völlig teilnahmslos und uneinbezogen bleibt. Handlung im engeren Sinn gibt’s keine, Höhepunkte schon gar nicht – exakt komponiert und aufgestellt, läuft die Szene durch wie eine Bowlingkugel, deren Ausrichtung, Wucht und Effet exakt dosiert wurden. Fernab der aktuell grassierenden Comedy-Theorien um Pointendichte und Gag-Rhythmus wirkt derlei sozusagen stoische Komik geradewegs erhaben.
Schöne neue Beispiele liefert der rundweg lobenswerte Film »Weltverbesserungsmaßnahmen« (Regie: Tom Schreiber), auch wenn einige seiner sieben Episoden durchaus so etwas wie Handlung vorgaukeln. Von Bedeutung ist sie jedoch nie; nicht einmal in jener aufwendigsten Episode, die von einer Do-it-yourself-Operation unter Freunden erzählt und als veritables Kleindrama daherkommt. Eigentlich schnuppe, wie die Sache am Ende ausgeht. Schließlich gilt für jeden der Kurzfilme, daß Hirnrissigkeit und Dilettantismus des jeweiligen Projekts zwar unverhohlen dargestellt, gleichzeitig jedoch sämtliche Rollen mit äußerster Sorgfalt und Zuwendung ausgefüllt werden. Ironische Distanz und sympathisierende Teilnahme halten sich jederzeit die Waage. So können als Referenzstücke gerade die handlungsfreien Minimal-Budget-Produktionen gelten, die vom Parkende-Autos-nach-Farben-Ordner etwa oder jene vom Alle-sollen-1,90m-groß-sein-und-ich-lebe-nur-für diese-Sache-Mann.
Stand-up-Comedians höre ich bisweilen klagen: »Der und der Gag kam heut gar nicht, sonst war der todsicher!« Ihnen empfehle ich die bizarren, auch filmtechnisch skurrilen »Weltverbesserungs­maßnahmen«: Unter Verzicht auf jegliche Soll-Lachstellen treten diese Petitessen vollkommen unangestrengt auf, ihrer komischen Wirkung sicher, kurz: im besten Sinne selbstbewußt.
 
 
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Aktuelle Startcartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Ciao, Luisa Neubauer!

»Massendemonstrationen sind kein Pizza-Lieferant«, lasen wir in Ihrem Gastartikel auf Zeit online. »Man wird nicht einmal laut und bekommt alles, was man will.«

Was bei uns massenhaft Fragen aufwirft. Etwa die, wie Sie eigentlich Pizza bestellen. Oder was Sie von einem Pizzalieferanten noch »alles« wollen außer – nun ja – Pizza. Ganz zu schweigen von der Frage, wer in Ihrem Bild denn nun eigentlich etwas bestellt und wer etwas liefert bzw. eben gerade nicht. Sicher, in der Masse kann man schon mal den Überblick verlieren. Aber kann es sein, dass Ihre Aussage einfach mindestens vierfacher Käse ist?

Fragt hungrig: Titanic

 Ach, Taube,

Ach, Taube,

die Du in Indien wegen chinesischer Schriftzeichen auf Deinen Flügeln acht Monate in Polizeigewahrsam verbracht hast: Deine Geschichte ging um die Welt und führte uns vor Augen, wozu die indische Fashion-Polizei fähig ist. Aufgrund Deiner doch sehr klischeehaften Modetattoos (chinesische Schriftzeichen, Flügel) fragen wir uns aber, ob Du das nicht alles inszeniert hast, damit Du nun ganz authentisch eine Träne unter dem Auge oder ein Spinnennetz auf Deinem Ellenbogen (?) tragen kannst!

Hat Dein Motiv durchschaut: Titanic

 Nicht zu fassen, »Spiegel TV«!

Als uns der Youtube-Algorithmus Dein Enthüllungsvideo »Rechtsextreme in der Wikingerszene« vorschlug, wären wir fast rückwärts vom Bärenfell gefallen: In der Wikingerszene gibt es wirklich Rechte? Diese mit Runen tätowierten Outdoorenthusiast/innen, die sich am Wochenende einfach mal unter sich auf ihren Mittelaltermärkten treffen, um einer im Nationalsozialismus erdichteten Geschichtsfantasie zu frönen, und die ihre Hakenkreuzketten und -tattoos gar nicht nazimäßig meinen, sondern halt irgendwie so, wie die Nazis gesagt haben, dass Hakenkreuze vor dem Nationalsozialismus benutzt wurden, die sollen wirklich anschlussfähig für Rechte sein? Als Nächstes erzählst Du uns noch, dass Spielplätze von Kindern unterwandert werden, dass auf Wacken ein paar Metalfans gesichtet wurden oder dass in Flugzeugcockpits häufig Pilot/innen anzutreffen sind!

Nur wenn Du versuchst, uns einzureden, dass die Spiegel-Büros von Redakteur/innen unterwandert sind, glauben Dir kein Wort mehr:

Deine Blauzähne von Titanic

 Genau einen Tag, Husqvarna Group (Stockholm),

nachdem das ungarische Parlament dem Nato-Beitritt Schwedens zugestimmt hatte, mussten wir was auf heise.de lesen? Dass auf Deinen Rasenmähern der »Forest & Garden Division« nach einem Software-Update nun der alte Egoshooter »Doom« gespielt werden kann!

Anders gesagt: Deine Divisionen marodieren ab sofort nicht nur lautstark mit Rasenmähern, Traktoren, Motorsägen, Motorsensen, Trennschleifern, Rasentrimmern, Laubbläsern und Vertikutierern durch unsere Gärten, sondern zusätzlich mit Sturmgewehren, Raketenwerfern und Granaten.

Falls das eine Demonstration der Stärke des neuen Bündnispartners sein soll, na schön. Aber bitte liefere schnell ein weiteres Software-Update mit einer funktionierenden Freund-Feind-Erkennung nach!

Hisst die weiße Fahne: Titanic

 Und übrigens, Weltgeist …

Adam Driver in der Rolle des Enzo Ferrari – das ist mal wieder großes Kino!

Grazie mille von Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Teigiger Selfcaretipp

Wenn du etwas wirklich liebst, lass es gehen. Zum Beispiel dich selbst.

Sebastian Maschuw

 Überraschung

Avocados sind auch nur Ü-Eier für Erwachsene.

Loreen Bauer

 Die Touri-Falle

Beim Schlendern durchs Kölner Zentrum entdeckte ich neulich an einem Drehständer den offenbar letzten Schrei in rheinischen Souvenirläden: schwarzweiße Frühstücks-Platzmatten mit laminierten Fotos der nach zahllosen Luftangriffen in Schutt und Asche liegenden Domstadt. Auch mein Hirn wurde augenblicklich mit Fragen bombardiert. Wer ist bitte schön so morbid, dass er sich vom Anblick in den Fluss kollabierter Brücken, qualmender Kirchenruinen und pulverisierter Wohnviertel einen morgendlichen Frischekick erhofft? Wer will 365 Mal im Jahr bei Caffè Latte und Croissants an die Schrecken des Zweiten Weltkriegs erinnert werden und nimmt die abwischbaren Zeitzeugen dafür sogar noch mit in den Urlaub? Um die Bahn nicht zu verpassen, sah ich mich genötigt, die Grübelei zu verschieben, und ließ mir kurzerhand alle zehn Motive zum Vorteilspreis von nur 300 Euro einpacken. Seitdem starre ich jeden Tag wie gebannt auf das dem Erdboden gleichgemachte Köln, während ich mein Müsli in mich hineinschaufle und dabei das unheimliche Gefühl nicht loswerde, ich würde krachend auf Trümmern herumkauen. Das Rätsel um die Zielgruppe bleibt indes weiter ungelöst. Auf die Frage »Welcher dämliche Idiot kauft sich so eine Scheiße?« habe ich nämlich immer noch keine Antwort gefunden.

Patric Hemgesberg

 Kapitaler Kalauer

Da man mit billigen Wortspielen ja nicht geizen soll, möchte ich hier an ein großes deutsches Geldinstitut erinnern, das exakt von 1830 bis 1848 existierte: die Vormärzbank.

Andreas Maier

 Tiefenpsychologischer Trick

Wenn man bei einem psychologischen Test ein Bild voller Tintenkleckse gezeigt bekommt, und dann die Frage »Was sehen Sie hier?« gestellt wird und man antwortet »einen Rorschachtest«, dann, und nur dann darf man Psychoanalytiker werden.

Jürgen Miedl

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

Titanic unterwegs
18.04.2024 Berlin, Heimathafen Neukölln Max Goldt
18.04.2024 Hamburg, Centralkomitee Ella Carina Werner
19.04.2024 Wuppertal, Börse Hauck & Bauer
20.04.2024 Eberswalde, Märchenvilla Max Goldt