Inhalt der Printausgabe
Juli 2005
Humorkritik (Seite 5 von 9) |
Reuters Vogeltränke |
Das Internet mag für manche ein Nachschlagewerk sein, für andere eine Poststelle, ein Versandhauskatalog oder eine Spielekonsole - für die meisten ist es eine Kneipenstraße, in deren Foren und Chatrooms man feierabendlichen Klönschnack hält, flirtet und Urlaubsfotos herumzeigt.
So ist es nur folgerichtig, wenn einzelne Heimseiten sich explizit Kneipe nennen, www.helmuts-kneipe.de etwa, unter welcher Adresse ein besonders hübsches Firmenschild zu finden ist samt dem Untertitel "Kein Freibier mehr - seit 1871". Wobei diese Jahreszahl angezweifelt werden muß: Das Lokal, das nach Anklicken des Kneipenschilds erreicht wird, existiert virtuell seit 2002 und außerhalb des Netzes überhaupt nicht; Betreiber ist der achtundzwanzigjährige Comiczeichner Matthias Reuter aus Oberhausen. Menschen verkehren hier keine - beim Wirt und den Stammgästen handelt sich's um Vögel, in weiteren Rollen erscheinen drei Mandarinen, ein Schaf, ein Hase, der Mond u.a. Wie für eine Kneipenclique üblich, haben die Typen ausgeprägte Charaktere respektive Marotten: Wirt Helmut bringt als kettenrauchendlauffauler Mittelfeldregisseur des Fußballvereins einen Standaschenbecher mit aufs Spielfeld, und ein Stammgast, der sich für ein Schwein hält, ist nie ohne Schweinekopfmaske überm Federkleid anzutreffen. Gerade das Absurde muß, um das Publikum zu erreichen, mit besonderer Präzision dargestellt werden; diese Regel scheint Reuter wohlvertraut, besteht seine augenfällige Stärke doch in der ungemein sorgfältigen Pflege seines Ensembles, er streichelt seine Schöpfungen förmlich mit dem Zeichenstift. Der nicht abgebrühte Autor, der mit seinen Figuren familiär zusammenlebt - bisweilen offenbart er sich auch durch gewisse Mängel seiner Geschichten: Da knallt das Schlußpointenpulver schon mal im zweiten Bildchen einer längeren Geschichte los; oder erst im vierten bei einem Strip, der nur drei Bilder umfaßt. Kleinigkeiten, die eigentlich nur deshalb wirklich schmerzen, weil Reuter sie fürs erste nicht ausmerzen wird: Nach rund hundert auf der Homepage archivierten Folgen und drei im Oberhausener Fake Press Verlag erschienenen Heften will er nicht mehr nachlegen und widmet sich nur noch seiner Karriere als Mann am Klavier. Denn während sein Selbstportrait im Comic, der kneipenklavierspielende Bär, eher im Hintergrund bleibt, hat der Klavierkabarettist Matthias Reuter zuletzt mit diversen Wettbewerbserfolgen durchaus Aufsehen erregt. Seine musikalisch unterlegten Geschichten sollen bald gesondert in dieser Rubrik gewürdigt werden, einstweilen bleibt der Hinweis auf die nach wie vor einladende Netzadresse, die übrigens auch dem Möchtegern-Prominenten Elton ("Die Burg") zu seiner bislang bedeutendsten Leistung verholfen hat: Öffentlich nach seinen Lieblingswebseiten befragt, nannte der hauptberufliche Toptrottel geradewegs helmuts-kneipe.de. Alle Achtung! |
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