Inhalt der Printausgabe

März 2004


Schwanz und Schrecken in Las Vegas
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Zwei Stunden schon saß Richard mir gegenüber, aber irgendwie kamen wir nicht voran. Er bleckte die perlweißen Zähne, drehte verloren an seinem brillantbesetzten Ehering, und ich schaute schweigend aus dem Fenster des Hilton Hotels, das längst mir hätte gehören sollen. Draußen, auf den Palmen, glitzerte der erste Schnee. Nicht der erste des Jahres, sondern der erste seit 1948 - so lange hatte es in Las Vegas schon nicht mehr geschneit. Ob Roy diesen Schnee vielleicht auch gesehen hatte? Und falls ja: Wußte sein Hirn, was dieser weiße Belag zu bedeuten hatte?
Vor dem Mirage Hotel, ihrem regelmäßigen Auftrittsort, zeigte eine Leuchtreklame das Doppelkonterfei von Siegfried und Roy, den "Magiern des Jahrhunderts"; eine Hinweistafel erinnerte an die "Meister des Unmöglichen, die Schöpfer beispielloser Bühnenunterhaltung, die größte Attraktion der Stadt für alle Zeiten"; das goldene, überlebensgroße Siegfried-und-Roy-Denkmal daneben jedoch stand verwaist, unbeachtet am Strip. Millionen Menschen schlichen täglich daran vorbei, und keiner hatte es für nötig befunden, einen Strauß Blumen, eine brennende Kerze oder wenigstens einen kleinen weißen Kuscheltiger für Roy niederzulegen.
Wo doch Siegfried Fischbacher aus Rosenheim und Roy-Uwe Horn aus Nordenham sich zeitlebens für den Schutz der bedrohten weißen Tiger eingesetzt hatten. Die größte Bedrohung der wenigen noch verbliebenen weißen Tiger waren freilich sie selbst, und kürzlich hatte einer mal kurz und energisch zugebissen, als Roy seine Faxen mit ihm trieb. Das hatte Roy nun davon und die Jahrhundertmagier seit September keinen Auftritt mehr. Weil der Ersatzmann fehlte.
 
In Las Vegas war rund um den Jahreswechsel allerhand los. Britney Spears war in der Stadt und hatte gerade im Vollrausch und aus Versehen einen ehemaligen Klassenkameraden geheiratet, Rezzo Schlauch weilte ebenfalls in Vegas, um eine zwanzig Jahre und zweihundert Kilo jüngere Albanerin zu heiraten, der man dafür nur einen gesegneten Vollrausch wünschen konnte, und Heino lungerte auch hier herum: Er war auf dem Weg zu Roys Krankenbett, weil er dem moribunden Magier sein anerkannt magisches Pater-Pio-Amulett bringen wollte, das ihn, Heino, schon vor Jahren mal aus dem Koma zurückgeholt hatte. Heino wurde allerdings von Siegfried nicht vorgelassen, denn wahrscheinlich hätte sich Roy zu Tode erschreckt, wenn überraschend ein amulettbehangener weißer Tiger an seinem Bett aufgetaucht wäre und Unsinn geredet hätte.
Auf den Dächern der Hotels am Strip lagen Tausende von Scharfschützen auf der Lauer, weil Präsident Bush die Terrorwarnstufe auf "Rot" gestellt hatte und auf Araberanschläge im feierwütigen Wüstenparadies spekulierte. Ich hingegen war zufällig hier, und wenn ich später hoffentlich ebenso zufällig auf Siegfried treffen sollte, würde ich ihm vorschlagen, daß ich kurzerhand für Roy einspringe. Schließlich konnte ich problemlos Wein in Wasser verwandeln, ich konnte Kuchenstücke nach und nach verschwinden lassen und außerdem machen, daß die Luft stinkt. Das sollten mir diese getackerten Zauberschwuchteln erst mal nachmachen. Im Hilton hatte ich ein spottbilliges Zimmer ergattert, die riesige Suite kostete nur zwanzig Dollar pro Nacht. Dafür hatte ich mich allerdings verpflichten müssen, am nächsten Morgen an einem privaten Treffen mit Richard teilzunehmen. Es würde zweieinhalb Stunden dauern.
Im "Presentation Center" des Hotels nahm mich Richard P. Miller mit Handschlag in Empfang. Obwohl er auf der Oberlippe keinen Pornobalken trug, erinnerte er mich sofort gleichzeitig an die Schlagersänger Barry Manilow bzw. Engelbert Humperdinck. Vielleicht lag es an der weibisch toupierten Frisur des jugendlich plump gebliebenen Vierzigers, der in Business-Hemd und Vertreter-Krawatte die übliche unschöne Figur machte. Das Handy trug er in einem Ledertäschchen am Gürtel.


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Aktuelle Startcartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Dear Weltgeist,

das hast Du hübsch und humorvoll eingerichtet, wie Du an der Uni Jena Deiner dortigen Erfindung gedenkst! Und auch des Verhältnisses von Herr und Knecht, über das Hegel ebenfalls ungefähr zur Zeit Deiner Entstehung sinnierte. Denn was machst Du um die 200 Jahre später, lieber Weltgeist? Richtest an Deiner Alma Mater ein Master-Service-Zentrum ein. Coole Socke!

Meisterhafte Grüße von Deiner Titanic

 Hey, »Zeit«,

Deine Überschrift »Mit 50 kann man noch genauso fit sein wie mit 20«, die stimmt vor allem, wenn man mit 20 bemerkenswert unfit ist, oder?

Schaut jetzt gelassener in die Zukunft:

Deine Titanic

 Du, »Deutsche Welle«,

betiteltest einen Beitrag mit den Worten: »Europäer arbeiten immer weniger – muss das sein?« Nun, wir haben es uns wirklich nicht leicht gemacht, ewig und drei Tage überlegt, langjährige Vertraute um Rat gebeten und nach einem durchgearbeiteten Wochenende schließlich die einzig plausible Antwort gefunden. Sie lautet: ja.

Dass Du jetzt bitte nicht zu enttäuscht bist, hoffen die Workaholics auf

Deiner Titanic

 Ciao, Luisa Neubauer!

»Massendemonstrationen sind kein Pizza-Lieferant«, lasen wir in Ihrem Gastartikel auf Zeit online. »Man wird nicht einmal laut und bekommt alles, was man will.«

Was bei uns massenhaft Fragen aufwirft. Etwa die, wie Sie eigentlich Pizza bestellen. Oder was Sie von einem Pizzalieferanten noch »alles« wollen außer – nun ja – Pizza. Ganz zu schweigen von der Frage, wer in Ihrem Bild denn nun eigentlich etwas bestellt und wer etwas liefert bzw. eben gerade nicht. Sicher, in der Masse kann man schon mal den Überblick verlieren. Aber kann es sein, dass Ihre Aussage einfach mindestens vierfacher Käse ist?

Fragt hungrig: Titanic

 Sie, Victoria Beckham,

Sie, Victoria Beckham,

behaupteten in der Netflix-Doku »Beckham«, Sie seien »working class« aufgewachsen. Auf die Frage Ihres Ehemanns, mit welchem Auto Sie zur Schule gefahren worden seien, gaben Sie nach einigem Herumdrucksen zu, es habe sich um einen Rolls-Royce gehandelt. Nun verkaufen Sie T-Shirts mit dem Aufdruck »My Dad had a Rolls-Royce« für um die 130 Euro und werden für Ihre Selbstironie gelobt. Wir persönlich fänden es sogar noch mutiger und erfrischender, wenn Sie augenzwinkernd Shirts mit der Aufschrift »My Husband was the Ambassador for the World Cup in Qatar« anbieten würden, um den Kritiker/innen so richtig den Wind aus den Segeln zu nehmen.

In der Selbstkritik ausschließlich ironisch: Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Tiefenpsychologischer Trick

Wenn man bei einem psychologischen Test ein Bild voller Tintenkleckse gezeigt bekommt, und dann die Frage »Was sehen Sie hier?« gestellt wird und man antwortet »einen Rorschachtest«, dann, und nur dann darf man Psychoanalytiker werden.

Jürgen Miedl

 Treffer, versenkt

Neulich Jugendliche in der U-Bahn belauscht, Diskussion und gegenseitiges Überbieten in der Frage, wer von ihnen einen gemeinsamen Kumpel am längsten kennt, Siegerin: etwa 15jähriges Mädchen, Zitat: »Ey, ich kenn den schon, seit ich mir in die Hosen scheiße!«

Julia Mateus

 No pain, no gain

Wem platte Motivationssprüche helfen, der soll mit ihnen glücklich werden. »There ain’t no lift to the top« in meinem Fitnessstudio zu lesen, das sich im ersten Stock befindet und trotzdem nur per Fahrstuhl zu erreichen ist, ist aber wirklich zu viel.

Karl Franz

 Nichts aufm Kerbholz

Dass »jemanden Lügen strafen« eine doch sehr antiquierte Redewendung ist, wurde mir spätestens bewusst, als mir die Suchmaschine mitteilte, dass »lügen grundsätzlich nicht strafbar« sei.

Ronnie Zumbühl

 Man spürt das

Zum ersten Mal in meinem Leben war ich in New York. Was soll ich sagen: Da war sofort dieses Gefühl, als ich zum ersten Mal die 5th Avenue hinunterflanierte! Entweder man spürt das in New York oder man spürt es eben nicht. Bei mir war sie gleich da, die Gewissheit, dass diese Stadt einfach null Charme hat. Da kann ich genauso gut zu Hause in Frankfurt-Höchst bleiben.

Leo Riegel

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

Titanic unterwegs
25.04.2024 Köln, Comedia Max Goldt
27.04.2024 Schwerin, Zenit Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
28.04.2024 Lübeck, Kolosseum Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
29.04.2024 Berlin, Berliner Ensemble Martin Sonneborn mit Sibylle Berg