Inhalt der Printausgabe

Juli 2004


EM 2004
Orte des Schreckens die wir niemals vergessen dürfen
(Seite 2 von 4)

Mittwoch, 9. Juni, 8.30 Uhr
Die Dokumentation
Verschlafene Redakteure quälen sich in baumwollene Trainingsanzüge, bekommen im Layoutbereich noch einen entwürdigenden Button angepappt ("TITANIC Sportredaktion") und verstauen das Mahnmal in einem gemieteten Mercedes Sprinter. Mit Klebeband befestigt Hintner ein Bettlaken an der Vorderseite, damit das Mahnmal später feierlich enthüllt werden kann. Wohl noch nie in der Geschichte des endgültigen Satiremagazins sind die Kreativ-Direktoren Martina Werner und Tom Hintner so beneidet worden. Zusammen mit Kristin Eilert sollen sie mit Fotoapparat und Videokamera alles dokumentieren. Und damit sie ungestört undercover arbeiten können, dürfen sie in Zivil bleiben.

 
Wo bleibt Völler?

9.05 Uhr
Die Angst
Pünktlich machen sich drei Autos auf den Weg zum DFB. Ganz unvorbereitet wird man dort nicht sein, dazu wissen bereits zu viele Pressevertreter Bescheid. Was wird uns erwarten: Ein ehrenvoller Empfang? Zumindest freies Geleit? Oder ein wütender Oliver Kahn, der vom DFB-Präsidenten Mayer-Vorfelder an der langen Leine auf uns gehetzt wird?

9.20 Uhr
Die Bestechung
Ankunft beim DFB. Da alle Parkmöglichkeiten blockiert sind, fährt Stephan Rürup den knallroten Transporter einfach direkt vors Haus. Während sich die Gruppe in den lächerlichen Trainingsanzügen zusammenfindet, nähere ich mich vorsichtig den zahlreichen Vertretern der vierten Gewalt: "Guten Tag, wer ist wegen der DFB-Pressekonferenz hier und wer wegen TITANIC? Wer auf TITANIC wartet, bekommt nun die üblichen Bestechungsgeschenke für korrupte Journalisten…" Der Reaktion nach zu urteilen sind fast alle wegen TITANIC gekommen, und Redaktionsassistentin Birgit Staniewski verteilt unter den Herandrängenden Umschläge mit Presseerklärungen, TITANIC-Heften und unseren bewährten Fußballer-Klebebildchen von der letzten WM.

10.00 Uhr
Die Panne
Gerade wollen Oliver Nagel und ich die große Blechtafel aus dem Wagen ziehen, da fällt uns auf, daß das Bettlaken nicht oben, sondern an der Unterkante festgeklebt ist. Hintner hat nicht an die Schwerkraft gedacht! Hektisch werden ein paar Klebebandreste umdrapiert, dann ziehen wir das Schild unter den gespannten Blicken der Pressemeute vorsichtig heraus und stellen es auf seine Ivar-Beine. Einen Moment lang weiß niemand, wie es weitergeht. Wahrscheinlich ist es für uns alle die erste historische Mahnmal-Enthüllung! Vorsichts-halber beginnt Rürup, seine Deutschland-Fahne zu schwenken, und die Journalisten bringen ihre Bleistifte, Fotoapparate und Kameras in Position. Nur die Führungsspitze des DFB bleibt in der Sicherheit ihres Hauptquartiers. Ein paar Männer mit schwarzen Sonnenbrillen stehen herum, die über ihre Handys laufend Berichte nach innen liefern. Wie die spätere Auswertung der Video-aufzeichnungen ergibt, ist die Redaktion hinter meinem Rücken nicht ganz so gespannt; im Gegensatz zur Presse weiß man ja bereits, was sich unter dem Betttuch verbirgt. Staniewski nimmt ein Sonnenbad, Gsella dichtet vor sich hin, Glockenhell, Tietze und Gärtner stehen mit offenen Jacken kontemplativ irgendwo in der Gegend herum. "Können die nicht etwas engagierter wirken!" tobt Hintner später bei der Foto-Auswahl, "das müssen die lernen: aktiv herumstehen! Sich nicht so hängen lassen! Mit denen kann man keinen Krieg gewinnen! Nicht einmal anzetteln! Nicht mal androhen!"

10.05 Uhr
"Iiiiiiiiiiiiiiiigh!"
Irgend etwas muß jetzt passieren, auch wenn Rudi Völler noch nicht da ist und der DFB weiterhin mauert. Ich lasse mir von Stefan Gärtner das Sprechstück des Megaphons geben. Als alter Aktionist weiß der Gießener, daß man das Gerät stets so nah an den Sprecher halten muß, daß den ersten Sätzen per Rückkoppelung ein aufmerksamkeitsheischendes Quietschen folgt: "Guten Tag, meine Damen und Herren Enthüllungsjournalisten. Iiiiiiiiiiiiiiiigh! Wir von TITANIC haben die WM 2006 nicht ins Land geholt, damit der DFB den deutschen Fußball kaputtmacht! Iiiiiiiiiiiiiiiigh!" Kameras surren, Ohren werden zugehalten, Bleistifte flitzen über unbeschriebene Blätter. "Mit unserer Bestechungsaktion im Juli 2000 - Geschenkkörbe mit Schwarzwälder Schinken und Kuckucksuhren für FIFA-Mitglieder in Zürich; der Neuseeländer Charles Dempsey enthielt sich daraufhin der Stimme; anschließend drohte der DFB TITANIC mit einer 600 Millionen-Mark-Klage - haben wir Deutschland die Teilnahme an der nächsten Weltmeisterschaft gesichert. Iiiiiiiiiiiiiiiigh!" Ungläubiges Murmeln hier und da.
"Dabei haben wir darauf vertraut, daß der DFB die Zwischenzeit nutzt, um eine technisch versierte junge Mannschaft aufzubauen. Dies ist augenscheinlich nicht geschehen." Etwas beifälligeres Murmeln.
"Als Mahnung an den DFB haben wir deshalb ein drei Meter großes Mahnmal errichten lassen, das wir heute hier vor dem Sitz des DFB präsentieren!" Gespannte Stille. Alle Augen sind auf das Bettuch gerichtet.

 
Reiß, ratsch, stocher - feierliche Bettlakenabnahme

10.07 Uhr
Die entscheidenden Bilder
Da alle Augen auf das Bettuch gerichtet sind, scheint mir der Zeitpunkt gekommen, das Laken mit einem eleganten Ruck herunterzureißen. Leider läßt sich das Bettlaken nicht mit einem eleganten Ruck herunterreißen, es ist fest angeklebt.
Schnell springt Rürup hinzu und stochert mit seiner Deutschland-Fahne an den Klebestreifen; da sackt das Tuch, das Mahnmal steht offen da - in seiner ganzen Pracht und Herrlichkeit! Kameras surren, Verschlüsse klicken, Bleistifte kratzen. Die vierte Gewalt fotografiert und filmt, was das Zeug hält. Aber ob sie auch verstehen, was sie filmen? Eine ergreifende Stille breitet sich aus, zumal bei den elektronischen Medien. In der Ecke der Print-Journalisten wird allerdings dreimal gelacht. Die schwarzen Sonnenbrillen berichten weiterhin wortreich in ihre Handys; von Völler und dem Rest des DFB keine Spur.


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Aktuelle Startcartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Lustiger Zufall, »Tagesspiegel«!

»Bett, Bücher, Bargeld – wie es in der Kreuzberger Wohnung von Ex-RAF-Terroristin Daniela Klette aussah«. Mit dieser Schlagzeile überschreibst Du Deine Homestory aus Berlin. Ha, exakt so sieht es in unseren Wohnungen auch aus! Komm doch gern mal vorbei und schreib drüber. Aber bitte nicht vorher die Polizei vorbeischicken!

Dankend: Titanic

 Hey, »Zeit«,

Deine Überschrift »Mit 50 kann man noch genauso fit sein wie mit 20«, die stimmt vor allem, wenn man mit 20 bemerkenswert unfit ist, oder?

Schaut jetzt gelassener in die Zukunft:

Deine Titanic

 Nicht zu fassen, »Spiegel TV«!

Als uns der Youtube-Algorithmus Dein Enthüllungsvideo »Rechtsextreme in der Wikingerszene« vorschlug, wären wir fast rückwärts vom Bärenfell gefallen: In der Wikingerszene gibt es wirklich Rechte? Diese mit Runen tätowierten Outdoorenthusiast/i nnen, die sich am Wochenende einfach mal unter sich auf ihren Mittelaltermärkten treffen, um einer im Nationalsozialismus erdichteten Geschichtsfantasie zu frönen, und die ihre Hakenkreuzketten und -tattoos gar nicht nazimäßig meinen, sondern halt irgendwie so, wie die Nazis gesagt haben, dass Hakenkreuze vor dem Nationalsozialismus benutzt wurden, die sollen wirklich anschlussfähig für Rechte sein? Als Nächstes erzählst Du uns noch, dass Spielplätze von Kindern unterwandert werden, dass auf Wacken ein paar Metalfans gesichtet wurden oder dass in Flugzeugcockpits häufig Pilot/innen anzutreffen sind!

Nur wenn Du versuchst, uns einzureden, dass die Spiegel-Büros von Redakteur/innen unterwandert sind, glauben Dir kein Wort mehr:

Deine Blauzähne von Titanic

 Wieso so eilig, Achim Frenz?

Wieso so eilig, Achim Frenz?

Kaum hast Du das Zepter im Kampf um die Weltherrschaft der Komischen Kunst auf Erden in jüngere Hände gelegt, da schwingst Du Dich nach so kurzer Zeit schon wieder auf, um in den höchsten Sphären für Deine Caricatura zu streiten.

Mögest Du Dir auch im Jenseits Dein beharrliches Herausgeber-Grummeln bewahren, wünscht Dir zum Abschied Deine Titanic

 Dear Weltgeist,

das hast Du hübsch und humorvoll eingerichtet, wie Du an der Uni Jena Deiner dortigen Erfindung gedenkst! Und auch des Verhältnisses von Herr und Knecht, über das Hegel ebenfalls ungefähr zur Zeit Deiner Entstehung sinnierte. Denn was machst Du um die 200 Jahre später, lieber Weltgeist? Richtest an Deiner Alma Mater ein Master-Service-Zentrum ein. Coole Socke!

Meisterhafte Grüße von Deiner Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 No pain, no gain

Wem platte Motivationssprüche helfen, der soll mit ihnen glücklich werden. »There ain’t no lift to the top« in meinem Fitnessstudio zu lesen, das sich im ersten Stock befindet und trotzdem nur per Fahrstuhl zu erreichen ist, ist aber wirklich zu viel.

Karl Franz

 Parabel

Gib einem Mann einen Fisch, und du gibst ihm zu essen für einen Tag. Zeig ihm außerdem, wie man die Gräten entfernt, und er wird auch den folgenden Morgen erleben.

Wieland Schwanebeck

 Wenn beim Delegieren

schon wieder was schiefgeht, bin ich mit meinen Lakaien am Ende.

Fabio Kühnemuth

 Teigiger Selfcaretipp

Wenn du etwas wirklich liebst, lass es gehen. Zum Beispiel dich selbst.

Sebastian Maschuw

 Dünnes Eis

Zwei Männer in Funktionsjacken draußen vor den Gemüsestiegen des türkischen Supermarkts. Der eine zeigt auf die Peperoni und kichert: »Hähä, willst du die nicht kaufen?« Der andere, begeistert: »Ja, hähä! Wenn der Esel dich juckt – oder nee, wie heißt noch mal der Spruch?«

Mark-Stefan Tietze

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

  • 27.03.:

    Bernd Eilert denkt in der FAZ über Satire gestern und heute nach.

Titanic unterwegs
28.03.2024 Nürnberg, Tafelhalle Max Goldt
31.03.2024 Göttingen, Rathaus Greser & Lenz: »Evolution? Karikaturen …«
04.04.2024 Bremen, Buchladen Ostertor Miriam Wurster
06.04.2024 Lübeck, Kammerspiele Max Goldt