Inhalt der Printausgabe
August 2004
Humorkritik (Seite 5 von 8) |
Vernunft ohne Verstand |
Alles in Maßen - diese vernünftige Maxime gilt auch für die Vernunft selbst. Sonst fängt sie an durchzudrehen und albern zu werden, wie es beispielsweise den wackeren Aufklärern im 18. Jahrhundert widerfuhr, die die biblischen Wunder auf die einfachste Art der Welt wegerklären wollten: dergestalt etwa, daß Jesus, bevor er die Fünftausend speiste, Körbe voller Brot in einer nahen Höhle gelagert habe, die er dann von seinen Jüngern herbeitragen ließ; und derlei kindliche Rationalisierungen mehr, die selbst gar wunderlich sind. Vernunft ohne Verstand ist lächerlich, das zeigte sich ähnlich schon in der Antike. Palaiphatos hieß der brave Mann im vierten Jahrhundert v. Chr., der die Sagen der Griechen doch tatsächlich für "Unglaubliche Geschichten" (so der ursprüngliche Titel seines Werks, jetzt als "Die Wahrheit über die griechischen Mythen" bei Reclam) hielt und mit großem Ernst penibel zu widerlegen sich bemühte. So beweist er beispielsweise, daß die Kentauren in Wirklichkeit bloß die ersten Reiter waren, aber keine Pferdmenschen: "Weder nämlich sind die Natur von Mensch und Pferd vereinbar, noch ist die Nahrung die gleiche, noch ist es möglich, daß durch einen menschlichen Mund und Hals die Nahrung für ein Pferd aufgenommen wird." Medea wiederum kochte nicht, wie die Legende behauptet, alte Männer, um sie zu verjüngen (denn "wenn sie jemanden gekocht hätte, hätte sie ihn bestimmt damit umgebracht", so Palaiphatos' sehr richtige Beobachtung), sondern sie hatte das Dampfbad erfunden. Und Europa wurde natürlich nicht von einem Stier entführt, sondern ein Grieche namens Tauros, also ein Herr Stier, entführte eine Prinzessin dieses Namens aus Phönizien. Wahrlich, ich sage euch: Die Liebe zur Vernunft macht manchmal blind. Dümmer, als an die alten Märchen zu glauben, ist nur, sie zu widerlegen; und schlimmer als die Feinde der Vernunft sind ihre Freunde - aber lustiger auch. Und damit genug der vernünftigen Maximen. |
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