Inhalt der Printausgabe
April 2004
Gerhard Schröder Erinnerungen 1944-1998 (Seite 1 von 3) |
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Kindheit und Jugend Meine Mutter war eine arbeitsame Frau. Wenn sie nicht gerade schmutzige Wäsche wusch oder Kohl einmachte, hackte sie vor unserer armseligen Hütte Holz oder auf Hitler herum, den sie nicht mochte und in ihrer direkten Art für unser schweres Leben verantwortlich machte. Sicher nicht ganz zu unrecht. Wegen des vom Braunauer Diktator in unverantwortlicher Weise angezettelten und zutiefst inhumanen Weltkriegs mußte sie schließlich auf Bauernhöfen in der Umgebung Kühe melken, Ställe ausmisten und Felder bestellen, etwa bei Neckermann. Abends kam sie völlig abgearbeitet nach Hause und warf sich vor die Glotze oder staubte das Bild meines Vaters ab, der wenige Tage nach meiner Geburt am 7. April 1944 von seinem Amt als Vater zurückgetreten war. Scherz beiseite: Er war natürlich gefallen, wie das damals hieß. Leider habe ich ihn nie kennengelernt und mir deswegen immer Ersatzväter aussuchen müssen: Josef Stalin, Vadder Abraham, später Dietmar Schönherr oder Oskar Lafontaine. An meinen ersten Schultag kann ich mich noch gut erinnern: Gleich als erstes bekam ich eine Sechs in Latein, konnte aber anschließend als einziger die Frage der Lehrerin beantworten: "Wer hat hier gefurzt?" Überhaupt: meine Lehrerin! Sie hieß Fräulein Kräutli und war aus der Schweiz. Sie sprach mit Akzent, so daß ich immer nur die Hälfte verstand, wenn sie sagte "Gerd, halt den Rand", "Hefte raus, Klassenarbeit!" oder "Wer hat den eingemachten Kohl an die Tafel geschmiert?". Ich war sehr verliebt in Fräulein Kräutli! Allerdings nur bis zur zweiten Stunde, da hatten wir nämlich Musik bei Frau Dr. Tuba: Erst ließ ich mir von ihr den Marsch blasen, dann -machte ich ihr, wie Kinder so sind, einen Heiratsantrag. Am Ende -meines ersten Schultages war ich bereits viermal "verheiratet"! Allerdings hatte ich auch bereits drei Viertel des Unterrichts auf der Eselsbank verbracht. Vielleicht rührt daher mein späterer Widerwille gegen "harte Oppositionsbänke"… | ||
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Zu dieser Zeit lebten wir in einem Behelfsheim neben dem Fußballplatz in Bexten. In jeder freien Minute stahl ich mich davon und sah den Großen beim Kicken zu. Eines Tages, ich weiß es noch wie heute, kriegte ich während des Kreisliga-Spitzenspiels TSV Bexten - TuS Talle den Ball voll in meine Kinderfresse. Ich weiß noch, wie ich heulend auf dem Hosenboden saß und dem Linksaußen damit drohte zurückzutreten. Natürlich nahm mich keiner ernst, denn eigentlich wollte ich ja mitmachen. Mitmachen! Mitmachen ging mir einfach über alles, egal wobei. Hauptsache mitmachen! Am besten bei den Großen. Irgendwann durfte ich dann in die G-Jugend, erst als Mitläufer, später als Mittelstürmer. Leider schoß ich sehr viele Eigentore, so daß ich meinen Spitznamen bald weghatte: Kleines Arschloch, denn ich war sehr klein als Kind. Wenn ich für meine Mutter einholen mußte, stand ich oft stundenlang vor der Käsetheke, ohne daß mich die Verkäuferin bemerkte. Irgendwann kam mir der Einfall, mich auf eine Obstkiste zu stellen, um auf diese Art größer zu wirken. Prompt wurde ich von der Käseverkäuferin freundlich und zuvorkommend bedient, wenn auch um 27 Mark betrogen. Schon damals wuchs mein Haß aufs Proletariat ins Unendliche. Ich schwor mir, sie später alle, alle fertigzumachen. Von Solidarität und Menschenrechten wußte ich noch nichts, ich war ja noch ein Kind. Und zwar ein ziemlich kleines! So wuchs ich heran bzw. nicht. Nach Beendigung der Volksschule sagte meine Mutter zu mir: "Freu dich, Gerd, du darfst die nächsten drei Jahre im Legoland verbringen!" Vor Freude tanzte ich wie verrückt aus der Reihe: Ich durfte ins Legoland! Man kann sich meine Enttäuschung vorstellen, als ich nicht im Legoland, sondern im Lemgoland, also in Lemgo landete, wo ich in einem Eisenwarenladen eine Lehre zum Klein- und Einzelhandelskaufmann absolvierte. Den ganzen Tag hatte ich jetzt mit Daumenschrauben, Reformhämmern und Nervensägen zu tun, was nicht immer leicht war. Dafür standen die, wie man damals sagte, "Weiber" bei mir Schlange: Die einen wollten mal einen richtigen Hammer anfassen, die anderen brauchten eine neue Bohrmaschine. Ganz schön anstrengend! Im übrigen hatte ich zwei rechte Hände, so daß ich schnell beschloß, mich weiterzubilden und die Mittlere Reife nachzumachen. Zur gleichen Zeit trat ich in die SPD ein und nahm schließlich auf der Abendschule mein Abitur in Angriff. In beiden Fällen galt: Keine Ahnung, aber große Klappe. Wo ich hie ein klitzekleines Latinum schaffte, gelang mir dort auf dem Bezirksparteitag Lippe-Süd mein erster kleiner Redebeitrag zum Thema "Mehr Ochlokratie wagen". Getreu meinem großen Vorbild Willy Brandt (1,80 Meter) hatte ich im übrigen sofort wieder Damenkontakte und war ziemlich froh, daß es auf die Länge gar nicht "so" ankam… | ||
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