Inhalt der Printausgabe

November 2003


TITANIC-TELEFON-TERROR:
Das grosse Jammern
(Seite 2 von 5)

Frau Ulrich
"Bei uns von zu Hause?"

TITANIC Jammer-Hotlines, Sonneborn, guten Tag.
Ulrich Guten Tag, ich hab Ihre Annonce gelesen, Sie suchen eine Telefonistin, und jetzt wollte ich fragen, wo ist das?
TITANIC Bei Ihnen zu Hause.
Ulrich (überrascht) Ach, bei uns von zu Hause aus?
TITANIC Genau.
Ulrich Und da wollte ich mich mal informieren, ob das was Seriöses ist?
TITANIC Das ist was ganz Seriöses, das steht doch in der Anzeige. Kurz gesagt geht es darum, daß unsere Firma eine 0190er Nummer geschaltet hat, die Ossi-Jammer-Hotline. Die wird im Fernsehen beworben und vor allem von Leuten aus dem Westen angerufen. Und wir suchen Telefonisten in den neuen Bundesländern, die ungeschönt die Verhältnisse im Osten schildern. Realistisch und eher zu negativ als zu positiv, wenn Sie verstehen…
Ulrich (leicht störrisch) Also arbeitsmäßig sieht's hier nicht so gut aus, aber sonst ist doch alles in Ordnung.
TITANIC Ja, das wollen die Anrufer natürlich nicht hören.
Ulrich (empört) Aber ich kann das doch nicht beschönigen! (legt auf)

Offenbar ist es nicht so einfach, wie wir dachten, im Osten sichere und bequeme Arbeitsplätze in geschmackvoller Umgebung zu schaffen.


Herr Wald
"Unverschämtheit!"

TITANIC …und Sie müssen dann einfach über die Verhältnisse im Osten so realistisch wie möglich herjammern. Wald Also ich find das 'ne Unverschämtheit! (knallt Hörer auf)

Die Brillanz unseres Konzeptes liegt eigentlich auf der Hand. Ob wir dennoch etwas weniger offensiv an die Leute herantreten sollten?


 


Frau Doss
"Aufs Konto? Oder was?"

TITANIC …es geht darum, daß Sie dann am Telefon etwas über den Osten erzählen. Wie Sie das einschätzen, wohin Sie nicht in den Urlaub fahren können, was früher alles besser war, wie das da so aussieht bei Ihnen.
Doss Hm.
TITANIC Da rufen dann Leute aus dem Westen an, und je länger die in der Leitung bleiben, desto mehr Geld verdienen wir. Und Sie auch.
Doss (verwirrt) Also die stellen praktisch mir die Fragen?
TITANIC (beschwichtigend) Nein, die stellen keine Fragen. Die rufen an, und Sie erzählen direkt los. Die Leute aus dem Westen wollen sich gern anhören, wie das im Osten aussieht.
Doss Ja, aber da kann ich nicht ganz folgen. Praktisch müssen die doch sagen, ich hätte gern mal gewußt, wie das so bei euch aussieht…
TITANIC (lavierend) Das ist ja eine, äh… sehr spezielle Service-Nummer. Da rufen nur Leute an, die genau das wissen wollen. Die sich so ein bißchen was erzählen lassen wollen. Aber nichts beschönigt, die erwarten schon so ein bißchen negativen Grundton.
Doss (mißtrauisch) Hm, und weiter muß ich da nichts machen? Das kann ich gar nicht nachvollziehen. Aber mir entstehen da gar keine Kosten?
TITANIC Nein, Sie bringen ja eine Arbeitsleistung und werden von uns bezahlt dafür.
Doss (interessiert) Aufs Konto? Oder was?
TITANIC Ja, genau. Sollen wir das mal ausprobieren? Ich rufe Sie an, und Sie melden sich mit:
TITANIC-Ossi-Hotline…
Doss TITANIC-Ossi-Hotline? Aber ich muß mich erst mal mit meinem Namen melden! Falls vielleicht ein Bekannter anruft, da kann ich nicht sagen: Ossi-Hotline, guten Tag! Die würden mich für verrückt erklären!
TITANIC Gut, dann lege ich gar nicht auf, sondern wir tun nur so, als ob bei Ihnen das Telefon klingelt. Klingeling. Und Sie sagen jetzt: TITANIC-Ossi-Hotline.
Doss (holprig) Guten Tag, TITANIC-Ossi-Hotline.
TITANIC Ja, guten Tag. Wie sieht denn das so aus bei Ihnen im Osten?
Doss Möchten Sie da über bestimmte Dinge jetzt, äh, was wissen?
TITANIC Ja, alles was so ein bißchen negativ ist.
Doss Also bei uns sieht es seit der Wende schlecht mit Arbeitsplätzen aus. Ganze Industrie ist bei uns zusammengebrochen. Früher mußten wir noch Überstunden schieben, Sonderschichten. Und mit einem Mal war das dann weg.
TITANIC Sehr gut, genau solche Sachen!
Doss Und jetzt, was die Regierung sich noch hat einfallen lassen, also da geht bei uns hier alles den Bach runter. (Schweigen)
TITANIC Gut, so ein bißchen auf Ungerechtigkeit könnten Sie noch gehen.
Doss Da wird immer auf die neuen Bundesländer geschimpft, aber wenn wir das mal realistisch sehen, waren gerade bei uns die Frauen immer Vollzeit im Job, die drüben waren zu Hause, haben ihre Wirtschaft gemacht, die konnten sich das auch leisten, wir mußten immer mitarbeiten.
TITANIC (anerkennend) Das klingt alles schon recht ordentlich!
Doss Das ist auch mehr Regierungsschuld. Auch wenn die sagen, da ist Geld geflossen, wir von der Bevölkerung haben davon nichts bekommen.
TITANIC Vielleicht noch ein bißchen mehr auf den Westen schimpfen. Helmut Schmidt hat gesagt, es wird zuviel gejammert im Osten.
Doss (aufgebracht) Ja, das ist 'ne ganz große Frechheit! Wir sind jahrelang auf Arbeit gegangen und hatten bedeutend weniger Löhne! Ich hab ja Westverwandtschaft und weiß Bescheid. Früher hatten wir 400 Mark, davon blieben 80 Prozent zum Leben. Und heute ist das bald kein Auskommen mehr! Uns rupfen sie mehr als die Westdeutschen, wir haben einen Stundenlohn von 4 Euro, da drüben haben sie über 20, ich empfinde das als Ungerechtigkeit. Und trotzdem wird immer auf dem Osten rumgehackt!
TITANIC (begeistert) Genau das brauchen wir!
Doss (in Rage) Ich versteh das nicht, bei der Wende sind sie alle auf die Straße gerannt. Warum sich heute nicht die Bevölkerung wieder wehrt. Die Leute kriegen keine Arbeit! Suchen sie sich aber drüben Arbeit, wird wieder gemurrt, die Ossis nehmen uns die Arbeit weg.
TITANIC Können Sie bitte noch was sagen über die trostlose Umwelt, die verödeten Städte, daß alles so häßlich ist?
Doss (lacht) Guter Gott, bin ja gar nicht drauf vorbereitet. Ich muß sagen, gerade wir hier im Vogtland haben sagenhaft schöne Umgebung…
TITANIC (enttäuscht) Nee, so was nicht, negativer!
Doss Ja, aber das kommt ja. Und das läßt sich einfach nicht vermarkten, weil die ganzen kleinen Läden kaputtgegangen sind durch ein großes Warenhaus. Sogar das Hotel mußte schließen! Die Preise für Strom sind bedeutend höher! Du bezahlst…
TITANIC (energisch) Halt! Nie die Anrufer duzen!
Doss Ich hab den nicht geduzt, ich sag nur so, also du bezahlst, das ist bei uns 'ne Redewendung. Alles wandert ab! Oder lebt von Sozialhilfe. Ich hatte doch noch was…
TITANIC Irgendwas Negatives. Das muß ein bißchen jämmerlicher sein!
Doss Ja, ich wollte doch noch was… Das ist jetzt irgendwie weg! (stöhnt) Ich rufe später noch einmal an…

Na bitte, es gibt sie doch: eine gute Telefonistin, die in unserer aufstrebenden Firma recht schnell Karriere machen dürfte.


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Aktuelle Startcartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Wieso so eilig, Achim Frenz?

Wieso so eilig, Achim Frenz?

Kaum hast Du das Zepter im Kampf um die Weltherrschaft der Komischen Kunst auf Erden in jüngere Hände gelegt, da schwingst Du Dich nach so kurzer Zeit schon wieder auf, um in den höchsten Sphären für Deine Caricatura zu streiten.

Mögest Du Dir auch im Jenseits Dein beharrliches Herausgeber-Grummeln bewahren, wünscht Dir zum Abschied Deine Titanic

 Lustiger Zufall, »Tagesspiegel«!

»Bett, Bücher, Bargeld – wie es in der Kreuzberger Wohnung von Ex-RAF-Terroristin Daniela Klette aussah«. Mit dieser Schlagzeile überschreibst Du Deine Homestory aus Berlin. Ha, exakt so sieht es in unseren Wohnungen auch aus! Komm doch gern mal vorbei und schreib drüber. Aber bitte nicht vorher die Polizei vorbeischicken!

Dankend: Titanic

 Ciao, Luisa Neubauer!

»Massendemonstrationen sind kein Pizza-Lieferant«, lasen wir in Ihrem Gastartikel auf Zeit online. »Man wird nicht einmal laut und bekommt alles, was man will.«

Was bei uns massenhaft Fragen aufwirft. Etwa die, wie Sie eigentlich Pizza bestellen. Oder was Sie von einem Pizzalieferanten noch »alles« wollen außer – nun ja – Pizza. Ganz zu schweigen von der Frage, wer in Ihrem Bild denn nun eigentlich etwas bestellt und wer etwas liefert bzw. eben gerade nicht. Sicher, in der Masse kann man schon mal den Überblick verlieren. Aber kann es sein, dass Ihre Aussage einfach mindestens vierfacher Käse ist?

Fragt hungrig: Titanic

 Hallo, faz.net!

»Seit dem Rückzug von Manfred Lamy«, behauptest Du, »zeigt der Trend bei dem Unternehmen aus Heidelberg nach unten. Jetzt verkaufen seine Kinder die Traditionsmarke für Füller und andere Schreibutensilien.« Aber, faz.net: Haben die Lamy-Kinder nicht gerade davon schon mehr als genug?

Schreibt dazu lieber nichts mehr: Titanic

 Waidmannsheil, »Spiegel«!

»Europas verzweifelte Jagd nach Munition«, titeltest Du, und doch könnte es deutlich schlimmer sein. Jagd auf Munition – das wäre, so ganz ohne diese Munition, deutlich schwieriger!

Nimmt Dich gerne aufs Korn: Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Dünnes Eis

Zwei Männer in Funktionsjacken draußen vor den Gemüsestiegen des türkischen Supermarkts. Der eine zeigt auf die Peperoni und kichert: »Hähä, willst du die nicht kaufen?« Der andere, begeistert: »Ja, hähä! Wenn der Esel dich juckt – oder nee, wie heißt noch mal der Spruch?«

Mark-Stefan Tietze

 Bilden Sie mal einen Satz mit Distanz

Der Stuntman soll vom Burgfried springen,
im Nahkampf drohen scharfe Klingen.
Da sagt er mutig: Jetzt mal ehrlich –
ich find Distanz viel zu gefährlich!

Patrick Fischer

 Überraschung

Avocados sind auch nur Ü-Eier für Erwachsene.

Loreen Bauer

 Teigiger Selfcaretipp

Wenn du etwas wirklich liebst, lass es gehen. Zum Beispiel dich selbst.

Sebastian Maschuw

 Tiefenpsychologischer Trick

Wenn man bei einem psychologischen Test ein Bild voller Tintenkleckse gezeigt bekommt, und dann die Frage »Was sehen Sie hier?« gestellt wird und man antwortet »einen Rorschachtest«, dann, und nur dann darf man Psychoanalytiker werden.

Jürgen Miedl

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Das schreiben die anderen

Titanic unterwegs
18.04.2024 Berlin, Heimathafen Neukölln Max Goldt
18.04.2024 Hamburg, Centralkomitee Ella Carina Werner
19.04.2024 Wuppertal, Börse Hauck & Bauer
20.04.2024 Eberswalde, Märchenvilla Max Goldt