Inhalt der Printausgabe

Juni 2003


Humorkritik
(Seite 6 von 10)

Karl Mayers Wachtel

"Eine Welle sagt zur andern: Ach! Wie rasch ist dieses Wandern! Und die zweite sagt zur dritten: Kurz gelebt ist kurz gelitten!" Das ist nicht etwa der Original-Vierzeiler eines lyrisch empfänglichen Zitterrochens, der tiefsinnige Oberjustizrat Karl Mayer hat es verfaßt und ihm den Titel "Das Gerede der Wellen" gegeben. Mayer mit großem M. Und genau der Mayer, den Heinrich Heine im "Wintermärchen" als eine "matte Fliege" bezeichnete, die "Maikäfer besingt". Heine spöttelte über den schwäbischen Dichter: "Er soll sehr berühmt sein in der ganzen Umgegend von Waiblingen, vor dessen Toren man ihm eine Statue setzen will, und zwar eine Statue von Holz und in Lebensgröße."
Was aus heutiger Sicht für Mayer spricht: Es rauschten ihm keine Romane aus der Feder, dramatische Anläufe nahm er nicht, er setzte keine aufgedunsenen Epen in die Welt und versuchte sich auch nicht im Balladenton, während um ihn herum die Uhlands und Schwabs sich aus jedem Finger und jeder Zehe mindestens eine langwierige Ballade saugten. Karl Mayer hat keine Ballade verfaßt. Nicht eine einzige; das ist ein unvergängliches Verdienst. Vielmehr hat er "sich fast ganz einer einzigen, allerdings unerschöpflichen Gattung der Lyrik zugewandt: der Naturdichtung", und dabei "erhebt er die Kürze zu einem förmlichen Prinzip". "Todesstrafe" ist ein Beispiel: "Hals und Leben abgeschnitten. - Heißt das Strafe? möcht ich bitten."
Einige tausend Zwei-, Vier-, Sechs-, Acht- und Zehnzeiler dieser Art gehen auf Mayers volles Konto, der 1870 in Tübingen im Alter von 84 Jahren starb. Meyers Großes Konversationslexikon betrachtete noch 1908 mit Wohlwollen seine "sinnigen Naturbilder von echt poetischer Wahrheit und großem Wohllaut der Sprache". Gegen einen pindarisierenden Hölderlin freilich, der Tübinger Turmdasein und umstaunte Umnachtung in der Hinterhand hat, ist ein Mayer chancenlos. Ein Kenner der Szene schrieb: "Karl Mayer ist ein kleines, aber eigenartiges Dichtertalent", aber diesen "eng gezogenen Kreis seiner Begabung" hat er "bis auf den letzten Rest ausgeschöpft". Denn "die armseligsten Stiefkinder der Natur, Würmer und Insekten, trägt er so gut im Herzen wie ihre herrlichsten Geschöpfe". Gewiß, "der Ideengehalt seiner Poesie ist freilich nicht groß: sie weist mehr glückliche Einfälle als bedeutende Gedanken auf. Auch durchwühlt sie nicht die Tiefen der menschlichen Seele", und "ein bedenklicher Mangel lag unleugbar in dieser poetischen Kurzatmigkeit". So daß Mayer "wohl daran tat, daß er so dichtete, wie es ihm naturgemäß war, bilden doch gerade seine wenigen längeren Gedichte die wertlosesten Bestandteile der Sammlung".
Das klingt mir lustig in den Ohren, dabei ist es nur ein Ausschnitt aus einem zweibändigen Werk, das 1897-1899 erschien. Nachzulesen ist die ganze "schwäbische Litteraturgeschichte" im gleichnamigen Buch von Rudolf Krauß, das der Verlag Jürgen Schweier in Kirchheim/Teck schon vor Jahren in einer Handschmeichler-Ausgabe wieder herausgebracht hat. In der Souveränität der Stoffbehandlung, der Weite des Überblicks, der Anschaulichkeit der Darstellung ist es unübertroffen. Mit Vergnügen lese ich immer wieder in dem Wälzer. Wenn man Nikolaus Lenau übrigens nach Karl Mayer fragte, geriet der Posthornist in Verzückung: "Das ist ein wunderbarer Mensch", rief er dann, aus dessen "Gemüte ein so milder Balsam quillt". Zu Lebzeiten Mayers sah er voraus: "O Mayer, wenn du stirbst, kommt keiner mehr, der singt wie du." Und seine Prophezeiung traf nicht völlig daneben. Denn wer vermöchte, außer vielleicht dem Kollegen Bernstein, heute "Lerche und Wachtel" so zu bedichten: "Entsteigt dem goldnen Feld mit Schwung / die Lerche der Begeisterung, / durchtrippelt es mit Fröhlichkeit / die Wachtel der Zufriedenheit."
Es lebe Karl Mayer! Und mit ihm Rudolf Krauß.



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Aktuelle Startcartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Gude, Fregatte »Hessen«!

Du verteidigst Deutschlands Demokratie zur Zeit im Roten Meer, indem Du Handelsrouten vor der Huthi-Miliz schützt. Und hast schon ganz heldenhaft zwei Huthi-Drohnen besiegt.

Allerdings hast Du auch aus Versehen auf eine US-Drohne geschossen, und nur einem technischen Fehler ist es zu verdanken, dass Du nicht getroffen hast. Vielleicht ein guter Grund für die USA, doch nicht auf der Erfüllung des Zwei-Prozent-Ziels zu beharren!

Doppelwumms von Titanic

 Und übrigens, Weltgeist …

Adam Driver in der Rolle des Enzo Ferrari – das ist mal wieder großes Kino!

Grazie mille von Titanic

 Lustiger Zufall, »Tagesspiegel«!

»Bett, Bücher, Bargeld – wie es in der Kreuzberger Wohnung von Ex-RAF-Terroristin Daniela Klette aussah«. Mit dieser Schlagzeile überschreibst Du Deine Homestory aus Berlin. Ha, exakt so sieht es in unseren Wohnungen auch aus! Komm doch gern mal vorbei und schreib drüber. Aber bitte nicht vorher die Polizei vorbeischicken!

Dankend: Titanic

 Genau einen Tag, Husqvarna Group (Stockholm),

nachdem das ungarische Parlament dem Nato-Beitritt Schwedens zugestimmt hatte, mussten wir was auf heise.de lesen? Dass auf Deinen Rasenmähern der »Forest & Garden Division« nach einem Software-Update nun der alte Egoshooter »Doom« gespielt werden kann!

Anders gesagt: Deine Divisionen marodieren ab sofort nicht nur lautstark mit Rasenmähern, Traktoren, Motorsägen, Motorsensen, Trennschleifern, Rasentrimmern, Laubbläsern und Vertikutierern durch unsere Gärten, sondern zusätzlich mit Sturmgewehren, Raketenwerfern und Granaten.

Falls das eine Demonstration der Stärke des neuen Bündnispartners sein soll, na schön. Aber bitte liefere schnell ein weiteres Software-Update mit einer funktionierenden Freund-Feind-Erkennung nach!

Hisst die weiße Fahne: Titanic

 Waidmannsheil, »Spiegel«!

»Europas verzweifelte Jagd nach Munition«, titeltest Du, und doch könnte es deutlich schlimmer sein. Jagd auf Munition – das wäre, so ganz ohne diese Munition, deutlich schwieriger!

Nimmt Dich gerne aufs Korn: Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Überraschung

Avocados sind auch nur Ü-Eier für Erwachsene.

Loreen Bauer

 Neulich

erwartete ich in der Zeit unter dem Titel »Glückwunsch, Braunlage!« eigentlich eine Ode auf den beschaulichen Luftkurort im Oberharz. Die kam aber nicht. Kein Wunder, wenn die Überschrift des Artikels eigentlich »Glückwunsch, Braunalge!« lautet!

Axel Schwacke

 Einmal und nie wieder

Kugelfisch wurde falsch zubereitet. Das war definitiv meine letzte Bestellung.

Fabian Lichter

 Tiefenpsychologischer Trick

Wenn man bei einem psychologischen Test ein Bild voller Tintenkleckse gezeigt bekommt, und dann die Frage »Was sehen Sie hier?« gestellt wird und man antwortet »einen Rorschachtest«, dann, und nur dann darf man Psychoanalytiker werden.

Jürgen Miedl

 Die Touri-Falle

Beim Schlendern durchs Kölner Zentrum entdeckte ich neulich an einem Drehständer den offenbar letzten Schrei in rheinischen Souvenirläden: schwarzweiße Frühstücks-Platzmatten mit laminierten Fotos der nach zahllosen Luftangriffen in Schutt und Asche liegenden Domstadt. Auch mein Hirn wurde augenblicklich mit Fragen bombardiert. Wer ist bitte schön so morbid, dass er sich vom Anblick in den Fluss kollabierter Brücken, qualmender Kirchenruinen und pulverisierter Wohnviertel einen morgendlichen Frischekick erhofft? Wer will 365 Mal im Jahr bei Caffè Latte und Croissants an die Schrecken des Zweiten Weltkriegs erinnert werden und nimmt die abwischbaren Zeitzeugen dafür sogar noch mit in den Urlaub? Um die Bahn nicht zu verpassen, sah ich mich genötigt, die Grübelei zu verschieben, und ließ mir kurzerhand alle zehn Motive zum Vorteilspreis von nur 300 Euro einpacken. Seitdem starre ich jeden Tag wie gebannt auf das dem Erdboden gleichgemachte Köln, während ich mein Müsli in mich hineinschaufle und dabei das unheimliche Gefühl nicht loswerde, ich würde krachend auf Trümmern herumkauen. Das Rätsel um die Zielgruppe bleibt indes weiter ungelöst. Auf die Frage »Welcher dämliche Idiot kauft sich so eine Scheiße?« habe ich nämlich immer noch keine Antwort gefunden.

Patric Hemgesberg

Vermischtes

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Das schreiben die anderen

Titanic unterwegs
19.04.2024 Wuppertal, Börse Hauck & Bauer
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