Inhalt der Printausgabe
Juli 2003
Humorkritik
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Lost in Music |
An einer Weltkarriere als Popstar ist der Brite Giles Smith, Jahrgang 1962, knapp vorbeigeschrammt, als 1988 seine erste und letzte Tournee mit den "Cleaners from Venus" fürchterlich schiefging. RCA Deutschland ("Warum Deutschland? Weil uns sonst keiner wollte!") hatte die Band unter Vertrag genommen und aufs Festland eingeladen, und dann… aber lesen Sie selbst: "In einem umgebauten Eisenbahngebäude in Dortmund sprang ein riesiger Skinhead mit nacktem Oberkörper aus dem Publikum auf die Bühne. Aus dem Augenwinkel konnte ich ihn vom Mikrofon aus kommen sehen. Ich überlegte noch kurz, ob ich meine Gitarre wegwerfen und über die Monitore weg ins Publikum flüchten sollte. Aber im nächsten Moment war er auch schon über mir. Ich spürte, wie sich sein heißer Arm um meinen Hals legte. Und dann spürte ich das Schmatzen seiner Lippen auf meiner Backe, als er mich küßte. Danach hüpfte er wieder davon. Es war der beste Sex, den ich die ganze Tournee über hatte." Nach der katastrophalen, in jeder Hinsicht enttäuschenden Tour ließ RCA Deutschland die "Cleaners from Venus" fallen wie eine kalte Kartoffel, und aus Giles Smith, dem Popstar, wurde Giles Smith, der Journalist, der richtige Popstars gelegentlich interviewen darf und es mit Humor nimmt, wenn sie ihn von oben herab behandeln. Dutzende, wenn nicht Hunderte von Siegern stehen in jedem Buchladen Schlange, um Ihnen zu erzählen, wie sie's geschafft haben, ganz nach oben zu kommen, Millionen einzuheimsen und sich die Welt gefügig zu machen, aber Sie sollten sie zur Seite scheuchen, all die aufdringlichen Bohlens und Beckenbauers und Henkels und Iacoccas und Effenbergs, und sich zur deutschen Übersetzung der Autobiographie des Versagers Giles Smith durchfragen ("Lost in Music. Eine Pop-Odyssee", Wilhelm Heyne Verlag). "Wie ich es nicht geschafft habe, reich und berühmt zu werden", das wäre auch ein schöner Titel gewesen für dieses extrem lustige, lebenskluge und mit feuriger Liebe zur Popmusik geschriebene Buch, dessen Erfolg auf dem deutschen Buchmarkt den Autor hoffentlich wenigstens finanziell für die hierzulande erlittenen und mit tränentreibender Komik geschilderten Seelenschmerzen entschädigen wird. |
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