Inhalt der Printausgabe
Juli 2003
Humorkritik
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Mühsams Erdkern |
Glück im Leben hatte der vor 125 Jahren geborene Erich Mühsam nicht. Als Anarchist war er den staatstragenden, ordnungsbesessenen Deutschen auf den Tod verhaßt; 1934 wurde er im KZ ermordet. Glück im Nachleben hat er auch nicht, denn das kürzlich im Steidl-Verlag erschienene Lesebuch ("Sich fügen heißt lügen", 45 Euro zusammen mit einem zweiten Band über "Leben und Werk") führt einen Agitator und Barrikadenlyriker vor, dessen einst mit revolutionärer Inbrunst hingepfefferte Sachen heute oft nur auf dem letzten komischen Loch pfeifen. "Erwacht, im Erdenrund ihr Knechte!" ruft Mühsam in seinem Gedicht "Die Internationale" den schon 1920 evtl. nicht mehr ganz zeitgemäßen "Knechten" zu: "Erwacht aus Hunger, Qual und Fron! / Im Erdkern grollen eure Rechte, / zum Endkampf auf" - aber wie soll es zum Endkampf kommen, wenn sich die Knechte wegen der im Erdkern grollenden Rechte grölend im Erdenrund wälzen! Wenn lyrisches Pathos und ein lesender Kopf zusammenstoßen und es hohl scheppert, muß es nicht am Kopf liegen. Ein bißchen komisch ist schon auch, wie brav der radikale Sozialist und libertäre Eigenbrötler Mühsam, der keinem Herrn gehorchen wollte, sich dem Reimzwang fügte: Da kritzelt er z.B. das Murkswort "Tyrannie" hin, weil ihr die "Anarchie" auf den Fuß folgt. Besser wären nur noch "Tyrannei" und "Anarchei" gewesen. Daß das Korsett traditioneller Formen und das Klapperwerk altbackener Verse seine revolutionären Gedanken sabotiert, muß Mühsam geahnt haben; in seinem Gedicht "Ich wollt das Lied des Herzens nicht verschweigen" schreibt er: "Ich stoß ins Horn. Noch einmal. - Doch ich staune: / die Menschen lachen, die ich wecken wollte, / als ob ein Mißton in die Lüfte rollte. - / Es muß ein Sandkorn sein in der Posaune." Dieses Sandkorn ist manchmal groß wie der Erdkern. |
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