Inhalt der Printausgabe
Januar 2003
Revolution! Umsturz-Impressionen aus einem verzweifelten Land (Seite 2 von 14) |
Frankfurt am Main Eine seltsame Ruhe liegt über der Stadt. Noch kann man sich einreden, es sei alles wie immer, und alles werde so weitergehen wie bisher. Vor den Trinkhallen im Frankfurter Gallusviertel stehen die Arbeitslosen und Gestrandeten genauso stoisch vor den Jägermeistern wie sonst auch, Türkenjungs spielen mit brennenden Autoreifen, aus den Briefkästen quillt der Müll. Aber gleich um die Ecke, in der Hellerhofstraße, sind sie nicht zu übersehen, die Transparente, die aus den oberen Stockwerken des Redaktionsgebäudes der Frankfurter Allgemeinen Zeitung hängen: "Vorstandsvorsitzende, laßt das Glotzen sein, kommt herauf und reiht euch ein!", "(Neo-)Liberalismus oder Tod!", "Kluge Köpfe müssen rollen für den Sieg!" Das Gebäude ist mit Mahagonischreibtischen verbarrikadiert, FAZ-Literaturobrist Hubert Spiegel schiebt Wache und schießt auf alles, was sich nicht bewegt. Von irgendwoher dringen Schreie, eine Wolke aus Dunst und Spannung klemmt in den Straßen. Ein paar Stockwerke höher tagt das Revolutionskommittee im Büro von Revolutionskommissar Franco Schirrmacher, das er gestern, nebst sämtlichen Sozialleistungen für die behinderte Kantinenköchin, hat streichen lassen (in Tarnfarbe). Ganz in Schwarz, das FAZ-Bonbon am Revers, sitzt er beinahe gelangweilt vor dem Telefon und summt Befehle hinein: "Mehr Anschläge, Fräulein Klabuster! Und stellen Sie die Kommunisten von der Rundschau an die Wand, vor die Rot-Grün das Land gefahren hat! Ich hänge jetzt auf, sagen wir Florian Illies, den Verräter." Es klopft an der Tür, ein Meldegänger bringt die Nachricht, daß der Reformstau am Frankfurter Kreuz mit Waffengewalt aufgelöst worden sei. Eine Partisanenabordnung unter Commandante Jorge Reißmüller habe sich in den Paragraphendschungel geschlagen, und in Berlin sei der Kaschmirkonflikt zwischen Illies und Stuckrad-Barre blutig, aber endgültig beigelegt worden. Schirrmacher macht wieder dieses Lausbubengesicht, das so wenig über ihn und so viel über die mentale Verfaßheit der Republik sagt, tritt ans Fenster und raucht die Fürsorgepflicht des Staates in der Pfeife. Auf dem Gehsteig gegenüber brennen zwei Altkleidercontainer. Schweflig hängt der Himmel überm Hauptbahnhof, wo gerade die ersten Sozialarbeiter und Frührentner "umgesiedelt" werden. Von der Straße dringt Geschrei. Gerade versucht der AStA-Vorsitzende, mit seinem Liegefahrrad die Barrikade zu durchbrechen, kann aber von Mitherausgeber Dieter Eckart bzw. einer gußeisernen Adler-Schreibmaschine gerade noch an der Konterrevolution gehindert werden. Gelernt ist eben gelernt. |
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