Inhalt der Printausgabe
Februar 2003
Humorkritik
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Frankfurter Würstchen |
Die Lkw-Schlange an der polnischen Grenze als Horizontale, ein zentral gelegenes Hochhaus als Vertikale - in diesem Achsenkreuz erstreckt sich Frankfurt an der Oder, einer jener Orte, wo man sich als Besucher unwillkürlich fragt: Sind die Leute hier so beschränkt, weil die Stadt so häßlich ist, oder umgekehrt? Gesichter, Kulissen, Alltagsgeschichten - in jeder Hinsicht bietet Frankfurt Niederschichtspezifisches in hoher Konzentration; ideale Voraussetzungen also für ein cineastisches Sittengemälde aus Deutschlands Proll-Milieu. Sehr anschaulich bezeugt dies Andreas Dresens Kammer-Spielfilm "Halbe Treppe", dessen angeblich hundertprozentige Authentizität beim intellektuelleren Kinopublikum freundlich aufgenommen wurde, ja, das Berliner Magazin tip spricht gar vom "Kultfilm des Jahres". Tatsächlich zeigt die konsequent sparsame Milieuskizze durchaus Qualitäten, namentlich im Atmosphärischen: So gewissenhaft werden die vier maßlos uninteressanten Hauptpersonen charakterisiert, daß wir Zuschauer glatt Mitgefühl für diese armen Frankfurter Würstchen entwickeln. Daß ihnen in Dokumentarfilmmanier Gelegenheit zur monologischen Selbstauskunft eingeräumt wird, daß Improvisationen sowie Probendialoge mitmischen - diese Stilmittel aus der Konkursmasse der Moderne sind meinen Kritikerkollegen ungemein positiv aufgefallen. Mich meinerseits hat gefreut, sie durchweg unaufdringlich verwendet zu finden. Zwingend komisch die Szene, wie Uwe und Ellen mit offenem Vogelkäfig dem entflogenen Liebling nachhetzen - eine Slapstick-Materialschlacht würde weniger drastisch wirken als diese Mini-Verfolgungsjagd, deren Realismus keine Distanzierung erlaubt. Erlaubt oder gar erzwungen wird solche Distanz allerdings mit zunehmender Filmdauer. Da die Figuren ihren Horizont der Tageshoroskope und Einbauküchen partout nicht überschreiten, erschöpfte sich mein Mitgefühl zusehends, um jenem Voyeurismus Platz zu machen, wie er gegenüber Käfigtieren oder einer Container-WG angebracht ist. Zu welchem Finalergebnis die partnerschaftlichen Irrungen und Wirrungen der beiden befreundeten Paare letztlich führten, war mir (und, wie mir schien, auch meinen Nebensitzern im Berliner Kinosaal) herzlich schnuppe. Nicht erst seit "Big Brother" haben die demoskopischen Proll-Dokus ihre Unschuld verloren, das müßte dem studierten Filmemacher Dresen eigentlich bewußt sein. Die selbstgestellte Aufgabe, Alltag in Frankfurt/Oder zu portraitieren, hat er freilich erfüllt; indessen hätte ich sein Material lieber als Dreißig-Minuten-Studie verarbeitet gesehen, auf Spielfilmlänge erscheint es mir überstrapaziert. Wie man's besser macht, habe ich dieser Tage in Gestalt einer anderen preiswerten Produktion erlebt, die sich auf den Geist einer größeren Stadt beruft: "Vienna" von Peter Gersina aus dem Jahr 2000. Zwei durchschnittliche Problemfilm-Gestalten und ein wundertätiger Jungheiliger, die als vollkommen gleichberechtigte Protagonisten in einer Bauwagen-WG koexistieren - die Umsetzung dieses Konzepts hat etwas hochprozentig Wienerisches, ohne daß dabei ein einziges Wort Dialekt gesprochen würde. So empfehle ich Dresen, auf seine Protagonistin Kathrin zu hören, wenn sie sinniert: "Wien ist doch auch eine schöne Stadt. Wien soll doch auch schön sein." Jedenfalls finden Filmer mit kleinem Budget dort große Aufgaben. |
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