Inhalt der Printausgabe
Februar 2003
Nur ohne unsere Mütter, Strambi!
Eine Flugrückschau von Oliver Maria Schmitt
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Es sollten die schwersten Stunden der Stadt werden, und ich ahnte schon etwas, als ich, Darmstadt passierend, auf der A 5 auf Frankfurt zurollte. Ich kam gerade aus meiner Geburtsstadt, wo ich zusammen mit Mutter ihren 80. Geburtstag gefeiert hatte. Zu zweit, wie immer in den letzten vierzig Jahren, denn Vater war schon früh Zigaretten holen gegangen und Mutter war der Meinung, daß ich neben meinem anstrengenden Beruf als Türsteher sowieso keine Zeit für eine andere Frau hätte. Und wie immer hatte ich weder Gegenargumente noch Lust, mit ihr zu streiten. Nun rollte ich, dick bepackt mit frisch geplätteter Bettwäsche, gestopften Socken und einem Jahresvorrat an Leberwurstbroten, in meinem rostigen Altauto auf die Stadt Frankfurt am Main zu. Und versank in meinen eigenen Gedanken. Die Gesamtsituation war so klar wie die Luft an diesem hellen, wolkenlosen Wintersonntag, den mein Quarzuhrkalender zweifelsfrei als den 5. Januar 2003 identifiziert hatte. Wir lebten in einer kaputten Welt. Der Kanzler war auf der Suche nach seiner fünften Frau, der Präsident ließ sich heimlich von Gunther von Hagens plastinieren, um für weitere zwanzig Jahre sein Amt und sich selbst verwesen zu können, die Kirchen waren leer, die Frauen unzugänglich und verstockt, die Mülleimer quollen über, und die Regierung hielt das geknechtete Volk mit Zwangspfandverordnungen nur mühsam in Schach. Der Frieden lag in den letzten Zuckungen, schon hatten die Flüsse ihr Bett verlassen, Polartemperaturen um den absoluten Nullpunkt hatten das Land schockgefrostet und der Luft ihre unschuldige Klarheit zurückgegeben. Minus dreißig Grad bei strahlender Sonne, der Luftraum über Frankfurt war weit und frei. Kein Vogel im Sinkflug, kein Flugzeug am Start. | |
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