Inhalt der Printausgabe
Februar 2003
Vom Fachmann für Kenner (Seite 13 von 16) |
Seelenheil Betrachtet man die russische Seele nur einmal recht aufmerksam und unvoreingenommen, wird man schwer leugnen können, daß neben ihrer ungeheuren Tiefe resp. Weite vor allem ihre außergewöhnliche Zart- und Feingliedrigkeit ins Auge springt. Dem Fachmann genügt meist schon ein einziger flüchtiger Blick, um dies zu bestätigen und zustimmend mit dem Kopf zu nicken. Allgemein darf also gelten: Sofern der Seelenbeobachter nicht als ein nichtsnutziges Trampelwesen rauhen Empfindens angesehen werden will, wird er zügig zugeben müssen, daß sie, die russische Seele, aus der Nähe besehen, gleichsam feingläsern ist wie sonst nur Frostväterchens Odem oder die Kugelaugen der Wodkarianer, gewißlich auch so hauchzart wie der Eisfilm auf der November-Newa, zerbrechlich wie die grazilen Tänzerinnen im Bolschoitheater, vielleicht brüchiger noch als in der russischen Sonne schmelzender Tiefkühlfisch, fein wie ein Süppchen von Babuschka oder die Fellmützen der sibirischen Jägersmänner, erst recht aber so hochempfindlich wie die delikaten Bande zwischen Kreml und la crème criminelle, also präterpropter doch wohl so einsturzgefährdet wie der ganze korrupte Saftladen alias ehemalige Sowjetunion, zumindest aber jedenfalls nicht minder fragil als russische Edelporzellankannen bzw. -tassen - - so daß schließlich und folglich folgender Satz, den eine marode Pelzmantelmatrone mit Kopfverband und Pulle den wie blind in den Untergrund Hinabtrottelnden warnend oder wütend in makellosem Russischdeutsch hinterherschleuderte, durchaus schon wieder von sänftigender, ja allseligmachender Schönheit und Richtigkeit war: "Gestern bei U-Bahn ausgerutscht und Seele kaputt gemacht!" Claudio Gutteck
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