Inhalt der Printausgabe

Oktober 2002


Humorkritik
(Seite 4 von 7)

Artmanns Anachronismen

"Die Strahlen einer unwirklichen Sonne brannten die letzten Schatten aus den Bäumen, (...) aus südsüdwestlicher Richtung tönte das makabre Blech eines siebzigtausendmal gespielten Trauermarsches, und die winzigen Noten aus angerostetem Metall brummelten durch die Luft." Eine Kulisse, vor der zwei Marineveteranen in voller Montur über einen Großfriedhof schnauben, um ihrem langjährigen Dienst- und Trinkkumpanen die letzte Ehre zu erweisen - und sich dabei hoffnungslos verirren. Bis der vermeintlich Hingeschiedene vor ihnen steht, seinerseits unterwegs zum Begräbnis jener beiden.
Tatsächlich, wir ahnen's schon, hatte ein Witzbold fingierte Trauerkarten verschickt. Eine Schnurre zweieinhalb Seiten lang zu erzählen, in umso anmutigerem Ton, je miserabler die Pointe ausfällt, dieses Verfahren hat Tradition. Nur, daß sich's beim Verfasser diesmal nicht um Roda Roda noch um Fritz Reuter handelt, sondern um H. C. Artmann (1921-2000), einen Autor also, der seit jeher zu den Avantgardisten gezählt wird. Und das nicht zu Unrecht, war Artmann doch Mitglied jener "Wiener Gruppe", in der Oswald Wiener, Konrad Bayer & Co. schon in den fünfziger Jahren Buchstabierübungen trieben, die dann in Form der Jandlschen Lautgedichte populäre Nachfolger finden sollten.
Sein Avantgardisten-Image war es, das dem in Wien geborenen Kosmopoliten zum Großen Österreichischen Staatspreis (1974) verholfen hat wie auch zur Einladung ans Literarische Colloquium Berlin, eine Institution, die damals ganz vom 68er-Stil geprägt war, mit Workshops, Diskussionsrunden und einer eigenen Publikationsreihe. Just in dieser Reihe nun erscheint 1972 Artmanns Bändchen "Von der Wiener Seite", das nichts enthält als 33 altmodisch-folkloristische Feuilletons und Miniaturen wie die oben erwähnte - im damaligen Umfeld muß sich das ausgenommen haben wie ein Mammut am Nacktbadestrand.
Anachronistisch-monströs hat sich auch sein Autor zeitlebens präsentiert: ein Gigant an Bildung und Schnapskonsum, polyglotter Weltgewandtheit und Lethargie, aristokratisch und unangepaßt - auch wenn er den Modecliquen der 60er und 70er Jahre angehörte und so vom seinerzeit reichlichen Segen öffentlicher Fördermittel profitierte. Mit der Berufskrankheit der Wiener Gruppe, der Kleinschreibung, hatte sich auch Artmann infiziert, zwei Jahrzehnte sind seine Texte davon schwer gezeichnet, erst seit 1970 zeigen sie sich von diesem Virus befreit. Gegen's seinerzeitige Sozial- und Friedensgedankengut indessen bleibt er vollkommen resistent, sein genossenschaftliches Engagement beschränkt sich zunehmend auf Sauftouren mit den Kollegen - Belege liefert das phantastisch schlampige Tagebuch "Das Suchen nach dem gestrigen Tag" (1964): Spontan fliegt Artmann für ein Wochenende von Paris nach Berlin, um dort mit O. Jägersberg und F. Tumler zu versumpfen, anschließend mietet er in Malmö ein feuchtes Zimmer mit Außenklo und tagträumt davon, "wie im Kriege leben" und "feine rauhreifüberzogene Jagdflinten durch den Nebel dieser Jahreszeit tragen" zu können.
Als der Publizist André Müller den bereits reiferen Artmann in Salzburg besucht, findet er diesen nicht im mindesten um seine Positionierung in der Literaturgeschichte, doch um so intensiver darum besorgt, ob per Moped noch irgendwo ein getränkeveräußernder Tanzschuppen anzusteuern sei; ohnehin, so Artmann zu Müller, fange er erst zu schreiben an, wenn das Geld partout zuende sei. Ja, schlimmer noch: Sobald der erste Vorschuß eingetroffen war, hat er den Schreibmaschinenkoffer wieder zugeklappt, wie jeder Artmann-Leser feststellen muß. Kaum einer seiner Texte ist übers Stadium eines Provisoriums, einer Werkprobe hinausgekommen.
Regelrecht böse bin ich deshalb den Kulturoffiziellen und Verlegern, die Artmann mit Stipendien und Preisen überhäuft bzw. ihm jedes unfertige Manuskript abgekauft und zum Schmuckdruck aufgemotzt haben. Was offiziell als Literaturförderung daherkam, hat im Falle dieses genialen Faulpelzes geradewegs Literaturverhinderung bewirkt. Einzig die Texte "Von der Wiener Seite" zeigen sich fertig durchgearbeitet - daß sie tatsächlich in einer Zeit drängender Geldnot des Verfassers entstanden seien, erzählen sie selber: etwa, wenn der Ich-Erzähler sein Radio im Pfandhaus versetzt, oder wenn er eine Petroleumlampe vom Schrott holt, weil ihm der Strom abgedreht wurde. Und so ungern ich einen Autor notleiden sehe - Artmanns Texten hätten etwas weniger "Slibovitz" und etwas mehr Petroleumlicht merklich gutgetan.
So aber muß ich mich in der dreibändig "Gesammelten Prosa" (Residenz Verlag) auf die hundert Seiten des erwähnten Werkleins beschränken, wenn ich einen Artmann lesen will, bei dem auch der Schlußsatz noch haltbar ist. Und z. B. so lautet: "Über dem Mödlinger Horizont schwimmt wie ein unendlich ferner, milchiger Mopedscheinwerfer der Abendstern dieses Tages."


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Aktuelle Startcartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Eine Frage, Miriam Meckel …

Im Spiegel-Interview sprechen Sie über mögliche Auswirkungen künstlicher Intelligenz auf die Arbeitswelt. Auf die Frage, ob die Leute in Zukunft noch ihr Leben lang im gleichen Beruf arbeiten werden, antworten Sie: »Das ist ja heute schon eher die Ausnahme. Ich zum Beispiel habe als Journalistin angefangen. Jetzt bin ich Professorin und Unternehmerin. Ich finde das toll, ich liebe die Abwechslung.« Ja, manchmal braucht es einfach einen beruflichen Tapetenwechsel, zum Beispiel vom Journalismus in den Fachbereich Professorin! Aber gibt es auch Berufe, die trotz KI Bestand haben werden? »Klempner zum Beispiel. Es gibt bislang keinen Roboter mit noch so ausgefeilter KI auf der Welt, der Klos reparieren kann.«

Das mag sein, Meckel. Aber was, wenn die Klempner/innen irgendwann keine Lust mehr auf den Handwerkeralltag haben und flugs eine Umschulung zum Professor machen? Wer repariert dann die Klos? Sie?

Bittet jetzt schon mal um einen Termin: Titanic

 Und übrigens, Weltgeist …

Adam Driver in der Rolle des Enzo Ferrari – das ist mal wieder großes Kino!

Grazie mille von Titanic

 Wow, Instagram-Kanal der »ZDF«-Mediathek!

In Deinem gepfefferten Beitrag »5 spicy Fakten über Kim Kardashian« erfahren wir zum Beispiel: »Die 43-Jährige verdient Schätzungen zufolge: Pro Tag über 190 300 US-Dollar« oder »Die 40-Jährige trinkt kaum Alkohol und nimmt keine Drogen«.

Weitergelesen haben wir dann nicht mehr, da wir uns die restlichen Beiträge selbst ausmalen wollten: »Die 35-Jährige wohnt nicht zur Miete, sondern besitzt ein Eigenheim«, »Die 20-Jährige verzichtet bewusst auf Gluten, Laktose und Pfälzer Saumagen« und »Die 3-Jährige nimmt Schätzungen zufolge gerne das Hollandrad, um von der Gartenterrasse zum Poolhaus zu gelangen«.

Stimmt so?

Fragen Dich Deine Low-Society-Reporter/innen von Titanic

 Aaaaah, Bestsellerautor Maxim Leo!

In Ihrem neuen Roman »Wir werden jung sein« beschäftigen Sie sich mit der These, dass es in nicht allzu ferner Zukunft möglich sein wird, das maximale Lebensalter von Menschen mittels neuer Medikamente auf 120, 150 oder sogar 200 Jahre zu verlängern. Grundlage sind die Erkenntnisse aus der sogenannten Longevity-Forschung, mit denen modernen Frankensteins bereits das Kunststück gelang, das Leben von Versuchsmäusen beträchtlich zu verlängern.

So verlockend der Gedanke auch ist, das Finale der Fußballweltmeisterschaft 2086 bei bester Gesundheit von der heimischen Couch aus zu verfolgen und sich danach im Schaukelstuhl gemütlich das 196. Studioalbum der Rolling Stones anzuhören – wer möchte denn bitte in einer Welt leben, in der das Gerangel zwischen Joe Biden und Donald Trump noch ein ganzes Jahrhundert so weitergeht, der Papst bis zum Jüngsten Gericht durchregiert und Wladimir Putin bei seiner Kolonisierung auf andere Planeten zurückgreifen muss? Eines will man angesichts Ihrer Prognose, dass es bis zum medizinischen Durchbruch »im besten Fall noch 10 und im schlimmsten 50 Jahre dauert«, ganz bestimmt nicht: Ihren dystopischen Horrorschinken lesen!

Brennt dann doch lieber an beiden Enden und erlischt mit Stil: Titanic

 Ach, Taube,

Ach, Taube,

die Du in Indien wegen chinesischer Schriftzeichen auf Deinen Flügeln acht Monate in Polizeigewahrsam verbracht hast: Deine Geschichte ging um die Welt und führte uns vor Augen, wozu die indische Fashion-Polizei fähig ist. Aufgrund Deiner doch sehr klischeehaften Modetattoos (chinesische Schriftzeichen, Flügel) fragen wir uns aber, ob Du das nicht alles inszeniert hast, damit Du nun ganz authentisch eine Träne unter dem Auge oder ein Spinnennetz auf Deinem Ellenbogen (?) tragen kannst!

Hat Dein Motiv durchschaut: Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Teigiger Selfcaretipp

Wenn du etwas wirklich liebst, lass es gehen. Zum Beispiel dich selbst.

Sebastian Maschuw

 Kapitaler Kalauer

Da man mit billigen Wortspielen ja nicht geizen soll, möchte ich hier an ein großes deutsches Geldinstitut erinnern, das exakt von 1830 bis 1848 existierte: die Vormärzbank.

Andreas Maier

 Neulich

erwartete ich in der Zeit unter dem Titel »Glückwunsch, Braunlage!« eigentlich eine Ode auf den beschaulichen Luftkurort im Oberharz. Die kam aber nicht. Kein Wunder, wenn die Überschrift des Artikels eigentlich »Glückwunsch, Braunalge!« lautet!

Axel Schwacke

 Bilden Sie mal einen Satz mit Distanz

Der Stuntman soll vom Burgfried springen,
im Nahkampf drohen scharfe Klingen.
Da sagt er mutig: Jetzt mal ehrlich –
ich find Distanz viel zu gefährlich!

Patrick Fischer

 Einmal und nie wieder

Kugelfisch wurde falsch zubereitet. Das war definitiv meine letzte Bestellung.

Fabian Lichter

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

Titanic unterwegs
24.04.2024 Trier, Tuchfabrik Max Goldt
25.04.2024 Köln, Comedia Max Goldt
27.04.2024 Schwerin, Zenit Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
28.04.2024 Lübeck, Kolosseum Martin Sonneborn mit Sibylle Berg