Inhalt der Printausgabe
Oktober 2002
Vom Fachmann für Kenner (Seite 3 von 16) |
Nase Das auf dem Flohmarkt neuerworbene Buch riecht nach Kotze. Merkwürdig: Führt man den Einband bis auf wenige Millimeter an die Nase heran, so daß der winzige Fusselflaum des weißlichen Leinens zart die Nasenspitze kitzelt, ist der Kotzegeruch nicht mehr wahrnehmbar. Doch kaum sind Buch und Leser wieder in die angestammte Leseposition gebracht, beginnt der säuerliche Geruch erneut die Nasenscheidewand hinaufzukriechen. Nochmaliges verdutztes Gegenriechen am Buch, jetzt auch zwischen den aufgeschlagenen Seiten, bestätigt den Befund: aus der Nähe nichts. Mit äußerster Selbstbeherrschung wird die Lektüre der ersten Erzählung - sie endet mit dem Wort "allein" und will, einmal begonnen, auch darauf hinaus - vorangebracht, nicht ohne daß das Hirn, von den olfaktorischen Eindrücken überwältigt und der literarischen Fiktion zu ungeahnten Phantasieleistungen beflügelt, wie von selbst absurde Zusammenhänge zwischen den Geschehnissen in dem nach Kotze riechenden Buch und den abertausend Geschichten, die dem wohlvertrauten Geruch eingeschrieben sind, herstellt, bis man schließlich ganz im Strudel der eigenen Kotzvergangenheit strudelt: Etwa wie man einmal, nachts halb vier, sturzbetrunken im Bett liegend, vom wie üblich äußerst plötzlich auftretenden Brechdrang getrieben, in der Eile sich nicht besser zu helfen wußte, als aus dem Schlafzimmerfenster im ersten Stock auf die tagsüber von kleinstädtischer Verwahrlosung regierte Frankfurter Einkaufsstraße sich zu übergeben, wobei der größte Teil auf der Leuchtreklame einer im Erdgeschoß befindlichen Bankfiliale landete und von dort noch Jahre später Kunden und Passanten freundlich grüßte; so denkt man, während die Augen weiter mechanisch die Zeichenketten auf dem Papier abtasten. Wie in Erinnerungen an verblichene Lieben wühlt das Bewußtsein ungefragt in abgelegten Brecherlebnissen, und das Wühlen hellt alles wieder auf, und der Blick läuft weiter stur waagerecht die Seite entlang. Und dann, endlich: "allein". Geschafft. Das Buch in die Badewanne geworfen und den Einband mit "Textil-Erfrischer" aus der Sprühflasche eingenebelt, und der Spuk hat ein Ende. Benjamin Schiffner
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