Inhalt der Printausgabe
November 2002
Vom Fachmann für Kenner (Seite 11 von 16) |
Kohlenklau Mein Hamburger Studienkollege Nick entstammte gehobenen Verhältnissen: Sein Vater war quasi König der norddeutschen Bundeswehr-Standortverwaltungen; seinem durchaus egalitären Nachnamen Schmidt schloß sich noch einer des russischen Hochadels an. Entsprechend wohnte er damals in einer Stadtvilla an der Rothenbaumchaussee - allerdings im früheren Kohlenkeller, den ihm sein Onkel als befristetes Logis angewiesen hatte. Ansonsten behauste der Onkel die ganze Pracht allein: Die Wohnräume standen voll mit seit Jahrzehnten abgedecktem Mobiliar, die von einem Kristallüster überkrönte Freitreppe hätte sich vor keinem vom Bal paré heimtrudelnden Lebemann verstecken müssen. Dies tat, in scharfem Kontrast zur repräsentativen Kulisse, aber der Onkel. In seinen Räumen eine mehr als flüchtige Erscheinung, oblag der scheue Privatier - übrigens Neffe und Patenkind Loriots - seit Jahren ausschließlich der Niederschrift seiner Erlebnisse während der kriegsbedingten Kinderlandverschickung. So ist nur ein einziges Rencontre zwischen ihm und mir in Nicks Kohlenkeller-Asyl zustandegekommen, schierer Notstand trieb ihn herbei. Der Neujahrsdank an die Herren von der Müllabfuhr war nämlich abzustatten, und er hatte keinen Pfennig Geld im Haus. Nick war ebenfalls in Verlegenheit, und so kramte ich meinen letzten zerknüllten Zehner aus der Tasche. Der Onkel wahrte dennoch die Formen: Direkt durfte ich ihm den Schein nicht aushändigen, sondern nur an Nick weitergeben, der ihn dann überreichte, wobei wir in einer Art konspirativem Halbkreis beisammenstanden. Husch! - Schon war er wieder zur Tür hinaus. Nick ist, wie ich dem Internet entnahm, jetzt Personalentwickler bei der Deutschen Bank in Frankfurt. Mit wunderlichen Originalen und schrulligen Außenseitern hat er's also weiterhin zu tun. Christian Meurer
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