Inhalt der Printausgabe

Mai 2002


Humorkritik
(Seite 3 von 8)

Seefahrt und Brettl

Zahlreiche Auftritte des Varietékünstlers Joachim Ringelnatz hat Herbert Günther erlebt, einige davon schildert er in seiner rororo-Monographie des Dichters, und dabei wird deutlich: Ringelnatz' Verhältnis zur Bühne war nicht ungetrübt, Stimmungskanone mit Ablachgarantie ist der schmächtige Rezitator nie gewesen. Auch wenn ihm zuzeiten schon ein legendärer Ruf vorauseilte - immer wieder schlug ihm auch Unverständnis entgegen; Ernüchterungen, die dem feinen Artisten arg zu schaffen machten. Und gleichwohl aus der Distanz fast zwangsläufig erscheinen, denn Ringelnatz zeigte Eigenarten, die im klassischen Nummernprogramm eher unangebracht sind. Hier erzielen am ehesten eindeutige, wiedererkennbare Typen Wirkung: Ringelnatz indessen präsentierte sich vielseitig und als entschiedener Gegner von Wiederholungen.
Kaum eine Spielart seiner Lyrik, die er nicht für varietétauglich gehalten hätte. Derbe Tabuverletzungen wie zartesten Zuspruch hat er den Tingeltangels zugemutet, bisweilen sogar spontan vom einen Extrem ins andere umgeschaltet. Auf zwei tragende Säulen verzichtete er in seinem Repertoire aber nie: die Turngedichte und den "Kuttel Daddeldu"-Zyklus, wobei sich auch diese beiden Serien klar unterscheiden. Reüssierten die ersteren Texte prompt als Selbstläufer (begreiflicherweise: Ihr satirischer Charakter offenbart sich ebenso zweifelsfrei wie das Ziel des Spottes, die vaterländisch proklamierte Leibeserziehung nämlich; überdies gaben sie dem Vortragenden Gelegenheit zur traditionell dankbaren mimischen Sportler-Imitation), haben die Daddeldu-Balladen dagegen immer wieder Mißverständnisse provoziert; und auch hier trifft Ringelnatz eine Teilschuld: Markenzeichen seiner Bühnenerscheinung waren Matrosenkittel und Weinglas. Kein Wunder also, daß das Publikum ihn nur zu gern mit dem versoffenen, weltmeererprobten Balladenprotagonisten identifizierte, was den Dichter jedoch ebenso empfindlich kränkte wie jene Knitteldichtungen im "Daddeldu"-Stil, mit denen Bühnenkollegen den rezitierenden Pseudo-Seebären veralberten, oder journalistische Mutmaßungen über des privaten Ringelnatz' angeblich gewaltigen Schnapskonsum.
Unabhängig von solchen Nebengeräuschen sind's die "Daddeldu"-Gedichte selbst, die Komplikationen heraufbeschwören. Anders als z.B. Heinz Erhardts "Ritter Fips"-Episoden entwickeln sie sich höchst unterschiedlich und keineswegs durchweg lustig, nur bisweilen bedienen die Texte irgendwelche Publikumserwartungen, etwa wenn Daddeldu, in stark übertriebener Darstellung, rumhurt und Kindern Schweinkram erzählt. Doch just die beiden stärksten Stücke, "Kuttel Daddeldu im Binnenland" und "Kuttel Daddeldu und Fürst Wittgenstein", liefern nichts als gereimt-realistische Protokolle je einer Sauftour samt damit einhergehender Unfälle. Schilderungen, die um so mehr gemischte Gefühle erzeugen, als sie das Scheitern einer ausgesprochen sympathischen Figur dokumentieren.
Jene kabarettistische Ideallinie, die durch Pointen in regelmäßigen Abständen gekennzeichnet ist, hat Ringelnatz ohnehin nie einhalten können, nun ist sie ihm vollends abhanden gekommen. Statt dessen entdeckt er, bis heute kaum bemerkt, das moderne Lang- und Erzählgedicht, wie es vierzig Jahre später als vermeintlich brandneuer Amerikaimport gefeiert werden sollte. Mir jedenfalls lieferte meine jüngste "Daddeldu"-Lektüre die Postum-Begründung dafür, daß mir die Hervorbringungen der Bukowskis, Brinkmanns und Jürgen Beckers schon ihrerzeit wenig originell erscheinen wollten.
Avantgardistische Züge finden sich nicht allein in Ringelnatz' Prosa (wo sie im Falle der "…liner Roma…"-Fragmente mittlerweile höchstgermanistisch anerkannt sind), sondern auch da, wo sie kaum auf Wertschätzung hoffen durften: in Gedichten, die genuin für die Bühne bestimmt waren. Was Wunder, daß Ringelnatz, als er sich nach sechzehnjähriger Vortragstätigkeit vom Brettl verabschiedete, von seiner berühmtesten Figur begleitet wurde: Der mit Ringelnatz nie und nimmer identische, jedoch intim befreundete Daddeldu ist auf der ganzen Welt zu Haus gewesen - nur eben nicht auf der Varietébühne.


   1 | 2 | 3 | 4 | 5 | 6 | 7 | 8   


Aktuelle Startcartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Hallo, faz.net!

»Seit dem Rückzug von Manfred Lamy«, behauptest Du, »zeigt der Trend bei dem Unternehmen aus Heidelberg nach unten. Jetzt verkaufen seine Kinder die Traditionsmarke für Füller und andere Schreibutensilien.« Aber, faz.net: Haben die Lamy-Kinder nicht gerade davon schon mehr als genug?

Schreibt dazu lieber nichts mehr: Titanic

 Mmmmh, Thomas de Maizière,

Mmmmh, Thomas de Maizière,

über den Beschluss der CDU vom Dezember 2018, nicht mit der Linkspartei oder der AfD zusammenzuarbeiten, an dem Sie selbst mitgewirkt hatten, sagten Sie bei Caren Miosga: »Mit einem Abgrenzungsbeschluss gegen zwei Parteien ist keine Gleichsetzung verbunden! Wenn ich Eisbein nicht mag und Kohlroulade nicht mag, dann sind doch nicht Eisbein und Kohlroulade dasselbe!«

Danke für diese Veranschaulichung, de Maizière, ohne die wir die vorausgegangene Aussage sicher nicht verstanden hätten! Aber wenn Sie schon Parteien mit Essen vergleichen, welches der beiden deutschen Traditionsgerichte ist dann die AfD und welches die Linke? Sollte Letztere nicht eher – zumindest in den urbanen Zentren – ein Sellerieschnitzel oder eine »Beyond Kohlroulade«-Kohlroulade sein? Und wenn das die Alternative zu einem deftigen Eisbein ist – was speist man bei Ihnen in der vermeintlichen Mitte dann wohl lieber?

Guten Appo!

Wünscht Titanic

 Apropos: ¡Hola bzw. holla, spanischer Priester!

Du hast Dir die Worte aus dem Matthäusevangelium »Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach« zu sehr zu Herzen genommen und in Deiner Gemeinde in der Kleinstadt Don Benito einen regen Handel mit Potenzmitteln betrieben. Für diesen nach weltlichem Ermessen offensichtlichen Sündenfall musst Du Dich nun vor einem irdischen Gericht verantworten.

Uns ist zwar nicht bekannt, ob Du Dich gegenüber Polizei und Justiz bereits bußfertig gegeben hast oder weiterhin auf das Beichtgeheimnis berufst. Angesichts der laut Zeugenaussagen freudigen Erregung Deiner überalterten Gemeindemitglieder beim Geläut der Glocken sowie ihres Durchhaltevermögens bei den nicht enden wollenden Eucharistiefeiern inklusive Rumgeorgel, Stoßgebeten und orgiastischer Gottesanrufungen sprechen alle Indizien aber ohnehin gegen Dich!

Bleibt auch ganz ohne künstliche Stimulanzien weiter standfest im Nichtglauben: Titanic

 Du, »Brigitte«,

füllst Deine Website mit vielen Artikeln zu psychologischen Themen, wie z. B. diesem hier: »So erkennst Du das ›Perfect-Moment -Syndrom‹«. Kaum sind die ersten Zeilen überflogen, ploppen auch schon die nächsten Artikel auf und belagern unsere Aufmerksamkeit mit dem »Fight-or-Flight-Syndrom«, dem »Empty-Nest-Syndrom«, dem »Ritter-Syndrom« und dem »Dead- Vagina-Syndrom«. Nun sind wir keine Mediziner/innen, aber könnte es sein, Brigitte, dass Du am Syndrom-Syndrom leidest und es noch gar nicht bemerkt hast? Die Symptome sprechen jedenfalls eindeutig dafür!

Meinen die Hobby-Diagnostiker/innen der Titanic

 Dear Weltgeist,

das hast Du hübsch und humorvoll eingerichtet, wie Du an der Uni Jena Deiner dortigen Erfindung gedenkst! Und auch des Verhältnisses von Herr und Knecht, über das Hegel ebenfalls ungefähr zur Zeit Deiner Entstehung sinnierte. Denn was machst Du um die 200 Jahre später, lieber Weltgeist? Richtest an Deiner Alma Mater ein Master-Service-Zentrum ein. Coole Socke!

Meisterhafte Grüße von Deiner Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Kehrwoche kompakt

Beim Frühjahrsputz verfahre ich gemäß dem Motto »quick and dirty«.

Michael Höfler

 Tiefenpsychologischer Trick

Wenn man bei einem psychologischen Test ein Bild voller Tintenkleckse gezeigt bekommt, und dann die Frage »Was sehen Sie hier?« gestellt wird und man antwortet »einen Rorschachtest«, dann, und nur dann darf man Psychoanalytiker werden.

Jürgen Miedl

 Einmal und nie wieder

Kugelfisch wurde falsch zubereitet. Das war definitiv meine letzte Bestellung.

Fabian Lichter

 Neulich

erwartete ich in der Zeit unter dem Titel »Glückwunsch, Braunlage!« eigentlich eine Ode auf den beschaulichen Luftkurort im Oberharz. Die kam aber nicht. Kein Wunder, wenn die Überschrift des Artikels eigentlich »Glückwunsch, Braunalge!« lautet!

Axel Schwacke

 Frühlingsgefühle

Wenn am Himmel Vögel flattern,
wenn in Parks Familien schnattern,
wenn Paare sich mit Zunge küssen,
weil sie das im Frühling müssen,
wenn überall Narzissen blühen,
selbst Zyniker vor Frohsinn glühen,
Schwalben »Coco Jamboo« singen
und Senioren Seilchen springen,
sehne ich mich derbst
nach Herbst.

Ella Carina Werner

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

Titanic unterwegs
24.04.2024 Trier, Tuchfabrik Max Goldt
25.04.2024 Köln, Comedia Max Goldt
27.04.2024 Schwerin, Zenit Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
28.04.2024 Lübeck, Kolosseum Martin Sonneborn mit Sibylle Berg