Inhalt der Printausgabe

Juli 2002


Humorkritik
(Seite 4 von 8)

Gut geklaut, schlecht selbergemacht

Wenn in der letzten Zeit zwei Trends die deutsche Fernsehunterhaltung bestimmt haben, dann die zum schamlosen Plagiat angloamerikanischer Formate und zu immer größerer Derbheit. Im schlimmsten Fall geht das Hand in Hand, wenn etwa RTL verzweifelt versucht, auf längst abgefahrene Comedy-Züge aufzuspringen, und Monate, wo nicht Jahre zu spät eine neue Sendung namens "Mundstuhl" in das Segment preßt, das von Kaya Yanar viel qualifizierter und von Erkan & Stefan viel komischer ausgefüllt ist. Den pidgin-deutschen Texten des Duos Lars Niedereichholz und Ande Werner hört man leider deutlich an, in wie kurzer Zeit sie von den beiden Hauptdarstellern selbst zusammengeschrieben werden mußten. Warum nur, fragt man sich, wo doch etwa Yanar bereits im Dezember "Was guckst Du?!" eingestellt hat mit der Begründung, daß "sich das Konzept zuletzt oft wiederholte und nichts wirklich Neues gebracht" habe. Dazu kommt, neben den seichten Witzen, die Mundstuhl häufig mit Geschmacklosigkeiten zu retten versuchen, daß man ihnen ihre Rollen als Ausländer-Proleten durchweg nicht abnimmt. Da stimmt einfach nichts, weder die Bomberjacken noch die Ziegenbärtchen, das sind immer Niedereichholz und Werner selbst, die durch ihre mageren Figuren durchscheinen.
Das ist bei Erkan und Stefan alias Erkan Maria Moosleitner und Stefan Lust anders, die auch außerhalb ihres Formats "headnut.tv" (Pro7), etwa in Talkshows, immer in ihren Rollen bleiben und darin mittlerweile zu Hochform auflaufen. Die beiden kopieren zwar ungeniert ihr britisches Vorbild Ali G. und seine Technik, ahnungslose Interviewpartner mit unqualifizierten Fragen zu überfordern, wenn sie etwa die Grande Dame der Meinungsforschung Elisabeth Noelle-Neumann unschuldig fragen, wie viele Meinungen es denn gebe, so ungefähr. Wie so oft gilt allerdings auch hier: besser gut geklaut als schlecht selbst ausgedacht.
Begrenzt gilt das auch für "Real Comedy" (RTL). Daß Christian Ulmen kein ganz schlechter ist, hat er mit seiner MTV-Sendung "Unter Ulmen" schon belegt; sein Kompagnon Tommy Wosch ist allerdings bisher eher unangenehm aufgefallen ("Star Wosch", "Morning Show"), woran sich durch "Real Comedy" nichts ändern wird. "Trigger Happy TV" heißt die durchaus würdige BBC-Vorlage, die die beiden von den Drehbuchideen bis zu Kameraeinstellungen und Musikuntermalung eins zu eins übernommen haben. Zum Teil (Ulmen) ganz lustig (Ulmen, als Briefträger verkleidet, reißt im Stadtpark Briefe auf und liest sie Rentnern zur Belustigung vor), zum Teil unsäglich (Wosch nervt auf absehbarste Weise Wartende beim Zahnarzt). Dieses Format hat Ulmen in einzelnen Beiträgen bei MTV schon getestet, und es geht die Fama, er habe geglaubt, das merke schon keiner. Pech gehabt.
Abgekupfert zum dritten: Was sie in ihrer Erziehung falsch gemacht habe, frug jüngst die Bild-Zeitung Uschi Glas, daß ihr Sohn Benjamin Tewaag sich zu so kruden Späßen hinreißen lasse, wie sie die "Freak Show" auf wiederum MTV vorführt. Dabei sind es nur zahme Abiturienten-Scherze, die bei der deutschen Version von MTVs "Jackass" herausgekommen sind. "Jackass" allerdings ist mit Abstand die lustigste und originärste Sendung dieser kleinen Rundschau: Zwar ebenfalls mit versteckter Kamera gefilmt (wie "Trigger Happy" resp. "Real Comedy"), aber eben nicht britisch-hintergründig, sondern amerikanisch-offensiv bis zur physischen Schmerzgrenze, wenn sich Johnny Knoxville von einer Zwölfjährigen in die Eier treten oder mit einem Dixie-Klo auf den Kopf stellen läßt oder einfach immer wieder mit einem Tretroller den Abhang hinunterfährt, bis es ihn ordentlich zerlegt. Am meisten lachen mußte ich bei einer Szene mit einem Leichenwagen, der so am Berg parkt, daß prompt beim Öffnen der rückwärtigen Tür der Sarg aus dem Auto heraus poltert und die "Leiche" zum Entsetzen der Passanten aus ihrem Behälter…
"Don't try this at home!" warnt MTV ganz zu recht vor jeder Show, aber das hält natürlich die vollverblödeten Kids nicht ab; heute erst mußte ich lesen, es habe sich eins ordentlich mit Spiritus übergossen und angezündet, weil das bei "Jackass" auch jemand getan hätte. Vielleicht ist das aber nur die halbe Wahrheit, möglicherweise hat das Bankert ja auch nur einmal zu oft Tommy Wosch und Mundstuhl sehen müssen.



   1 | 2 | 3 | 4 | 5 | 6 | 7 | 8   


Aktuelle Startcartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Vielleicht, Ministerpräsident Markus Söder,

sollten Sie noch einmal gründlich über Ihren Plan nachdenken, eine Magnetschwebebahn in Nürnberg zu bauen.

Sie und wir wissen, dass niemand dieses vermeintliche High-Tech-Wunder zwischen Messe und Krankenhaus braucht. Außer eben Ihre Spezln bei der Baufirma, die das Ding entwickelt und Ihnen schmackhaft gemacht haben, auf dass wieder einmal Millionen an Steuergeld in den privaten Taschen der CSU-Kamarilla verschwinden.

Ihr Argument für das Projekt lautet: »Was in China läuft, kann bei uns nicht verkehrt sein, was die Infrastruktur betrifft.« Aber, Söder, sind Sie sicher, dass Sie wollen, dass es in Deutschland wie in China läuft? Sie wissen schon, dass es dort mal passieren kann, dass Politiker/innen, denen Korruption vorgeworfen wird, plötzlich aus der Öffentlichkeit verschwinden?

Gibt zu bedenken: Titanic

 Dear Weltgeist,

das hast Du hübsch und humorvoll eingerichtet, wie Du an der Uni Jena Deiner dortigen Erfindung gedenkst! Und auch des Verhältnisses von Herr und Knecht, über das Hegel ebenfalls ungefähr zur Zeit Deiner Entstehung sinnierte. Denn was machst Du um die 200 Jahre später, lieber Weltgeist? Richtest an Deiner Alma Mater ein Master-Service-Zentrum ein. Coole Socke!

Meisterhafte Grüße von Deiner Titanic

 Wow, Instagram-Kanal der »ZDF«-Mediathek!

In Deinem gepfefferten Beitrag »5 spicy Fakten über Kim Kardashian« erfahren wir zum Beispiel: »Die 43-Jährige verdient Schätzungen zufolge: Pro Tag über 190 300 US-Dollar« oder »Die 40-Jährige trinkt kaum Alkohol und nimmt keine Drogen«.

Weitergelesen haben wir dann nicht mehr, da wir uns die restlichen Beiträge selbst ausmalen wollten: »Die 35-Jährige wohnt nicht zur Miete, sondern besitzt ein Eigenheim«, »Die 20-Jährige verzichtet bewusst auf Gluten, Laktose und Pfälzer Saumagen« und »Die 3-Jährige nimmt Schätzungen zufolge gerne das Hollandrad, um von der Gartenterrasse zum Poolhaus zu gelangen«.

Stimmt so?

Fragen Dich Deine Low-Society-Reporter/innen von Titanic

 Lustiger Zufall, »Tagesspiegel«!

»Bett, Bücher, Bargeld – wie es in der Kreuzberger Wohnung von Ex-RAF-Terroristin Daniela Klette aussah«. Mit dieser Schlagzeile überschreibst Du Deine Homestory aus Berlin. Ha, exakt so sieht es in unseren Wohnungen auch aus! Komm doch gern mal vorbei und schreib drüber. Aber bitte nicht vorher die Polizei vorbeischicken!

Dankend: Titanic

 Anpfiff, Max Eberl!

Sie sind seit Anfang März neuer Sportvorstand des FC Bayern München und treten als solcher in die Fußstapfen heikler Personen wie Matthias Sammer. Bei der Pressekonferenz zu Ihrer Vorstellung bekundeten Sie, dass Sie sich vor allem auf die Vertragsgespräche mit den Spielern freuten, aber auch einfach darauf, »die Jungs kennenzulernen«, »Denn genau das ist Fußball. Fußball ist Kommunikation miteinander, ist ein Stück weit, das hört sich jetzt vielleicht pathetisch an, aber es ist Liebe miteinander! Wir müssen alle was gemeinsam aufbauen, wo wir alle in diesem gleichen Boot sitzen.«

Und dieser schräge Liebesschwur, Herr Eberl, hat uns sogleich ungemein beruhigt und für Sie eingenommen, denn wer derart selbstverständlich heucheln, lügen und die Metaphern verdrehen kann, dass sich die Torpfosten biegen, ist im Vorstand der Bayern genau richtig.

Von Anfang an verliebt für immer: Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Frühlingsgefühle

Wenn am Himmel Vögel flattern,
wenn in Parks Familien schnattern,
wenn Paare sich mit Zunge küssen,
weil sie das im Frühling müssen,
wenn überall Narzissen blühen,
selbst Zyniker vor Frohsinn glühen,
Schwalben »Coco Jamboo« singen
und Senioren Seilchen springen,
sehne ich mich derbst
nach Herbst.

Ella Carina Werner

 Dünnes Eis

Zwei Männer in Funktionsjacken draußen vor den Gemüsestiegen des türkischen Supermarkts. Der eine zeigt auf die Peperoni und kichert: »Hähä, willst du die nicht kaufen?« Der andere, begeistert: »Ja, hähä! Wenn der Esel dich juckt – oder nee, wie heißt noch mal der Spruch?«

Mark-Stefan Tietze

 Kehrwoche kompakt

Beim Frühjahrsputz verfahre ich gemäß dem Motto »quick and dirty«.

Michael Höfler

 Pendlerpauschale

Meine Fahrt zur Arbeit führt mich täglich an der Frankfurt School of Finance & Management vorbei. Dass ich letztens einen Studenten beim Aussteigen an der dortigen Bushaltestelle mit Blick auf sein I-Phone laut habe fluchen hören: »Scheiße, nur noch 9 Prozent!« hat mich nachdenklich gemacht. Vielleicht wäre meine eigene Zinsstrategie selbst bei angehenden Investmentbankern besser aufgehoben.

Daniel Sibbe

 Wenn beim Delegieren

schon wieder was schiefgeht, bin ich mit meinen Lakaien am Ende.

Fabio Kühnemuth

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

Titanic unterwegs
25.04.2024 Köln, Comedia Max Goldt
27.04.2024 Schwerin, Zenit Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
28.04.2024 Lübeck, Kolosseum Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
29.04.2024 Berlin, Berliner Ensemble Martin Sonneborn mit Sibylle Berg