Inhalt der Printausgabe
März 2001
Humorkritik
(Seite 7 von 8)
Durch dick und dünn |
Im letzten Monat des vorigen Jahrhunderts hatte ich in der Bücherei einer süddeutschen Kleinstadt Gelegenheit, einer Lesung mit Tanja Kinkel beizuwohnen. Dieselbe trug weit über eine Stunde winzige Teile aus ihrem neuesten Riesenschinken "Unter dem Zwillingsstern" vor, der "Geschichte zweier junger Menschen vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte in den Jahren 1918 bis 1945". Laut Klappentext hat Frl. Kinkel damit den "Sprung von der preisgekrönten Jungautorin zur souveränen Schriftstellerin bewältigt". Und zwar "mühelos". Auf dem Stuhl vor mir saß eine ältere Dame, die nach etwa fünf Minuten den Kopf sinken ließ und wegduselte. Vielleicht hatte sie ja einen schweren Tag gehabt. Erst im Schlußapplaus schreckte sie auf und klatschte kräftig mit. Als ich hernach die Türe aufstieß, um ins Freie zu gelangen, standen da drei Frauen beisammen, mutmaßlich Lehrerinnen, um geschwind leichte Filterzigaretten wegzutauschen und Eindrücke auszurauchen. "Also, wenn ich etwas schreibe", sagte eine, als ich vorüberhuschte, "komme ich nie über ein Dutzend Seiten hinaus. Und Tanja Kinkel schafft so locker 800 Seiten. Ich kann das nicht ganz nachvollziehen, aber ich bewundere es sehr." Dann nahm sie einen kräftigen Zug aus ihrer Fluppe und blies einen umfangreichen Rauchschwaden aus, der alsbald verwehte. Wer diese zwei traurigen Geschichtlein eventuell nicht glauben will, der liegt ganz falsch. Denn es gibt ja doch auch den Roman von Tanja Kinkel in echt. Er bringt es auf exakt 884 Seiten. Achthundertvierundachtzig Seiten. Wie überaus anders kommt da "Mein Leben als Buch" von Peter Jacobi (Edition Nautilus) daher. Praktisch ganz anders. Nennt sich zwar gleichfalls Roman, bringt jedoch 740 Seiten weniger auf die Waage und ist exakt je 144 Mal kurzweiliger, einfallsreicher, witziger, besser geschrieben etc. Ein dicker Antiquar findet sich morgens früh samsahaft verwandelt vor, kann aber nicht durch die offene Tür entwischen, denn ein Buch hat ja bekanntlich keine Beine. Der Mann ist außerdem nicht irgendein Buch geworden, sondern ausgerechnet das, welches man gerade in der Hand hält, wenn man eben "Mein Leben als Buch" liest. Zum Beispiel als Rezensionsexemplar. Auch wenn ich in jeder Minute meines schweren Lebens der lichtenbergschen Formel "Bloß kein Buch von Büchern" eingedenk bin, so kann ich wahrscheinlich doch behaupten: Dieser Jacobi hat uns möglicherweise erst wieder die Augen dafür geöffnet, daß so ein Buch eventuell ein Bewußtsein haben könnte. Wie auch immer sich die Sache genau verhalten mag, ich lege hiermit fest: Sogenannte Büchernarren haben das Werk demnächst oder in fernerer Zukunft als Geschenk zu erhalten, zu welcher Gelegenheit auch immer! Tritt dieser Fall nicht ein, sollen sie es sich selber besorgen. |
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