Inhalt der Printausgabe

Dezember 2001


Humorkritik
(Seite 5 von 6)

Neues Altfränkisches

"Altfränkisch" wird der Erzählstil Martin Mosebachs gerne von seinen Kritikern genannt, gemeint ist: umständlich und anachronistisch. Ein oberflächlicher Anwurf, der auch den "Nebelfürst" treffen wird, Mosebachs jüngst in der Eichbornschen Anderen Bibliothek erschienenen sechsten Roman. Doch wie bereits in Mosebachs früheren Werken geht es auch hier um mehr: nämlich um die vergnügliche und hochkompetente Widerlegung des postmodernen Axioms von der Unmöglichkeit zu erzählen und um eine fortwährende Diskussion von Wirklichkeit bzw. der Unmöglichkeit, diese zu erkennen - oder dem Unwillen dazu. Antiheld Theodor Lerner, Volontär im Berlin der Jahrhundertwende, lernt eben nicht, sondern fehlinterpretiert die Welt und setzt selbst falsche Zeichen: Zuerst geht er einer Hochstaplerin auf den Leim und anschließend auf Expedition, um die nördlich von Spitzbergen gelegene und bis dato herrenlose Bären-Insel für das Deutsche Reich zu annektieren, das diese aber gar nicht haben will; zuletzt wünscht er sich für seine Insel ein Nebelhorn, welches nur auf die bloße Existenz des Eilands verwiese und auf sonst nichts - könnte jemand es denn hören.
Hochkomisch ist es bei Mosebach oft, wenn er seinen Akteuren Tableaus bereitet, auf denen er sie wie auf einer Bühne aufmarschieren und mit großem Ernst alberne Pirouetten drehen läßt, wenn er die Handlung seitenweise zugunsten von Milieuschilderungen und Figurenbeschreibungen suspendiert, die hinterher für den Plot völlig nutzlos sind, wenn über Welterkenntnis schwadroniert wird, daß es nur so… - aber was schreibe ich mich hier um Kopf und Kragen, lesen Sie doch selbst, wie etwa der Herzog von Mecklenburg sich Gedanken macht über die Spezies des englischen Gentleman: "Für ein Empire brauchte man nicht ein paar herzogliche Dinosaurier - so nannte er sich mit Vergnügen -, sondern tausend, vielleicht hunderttausende Herren, der Herrenstand mußte bis tief in den Mittelstand, bis ins Kleinbürgertum womöglich erweitert werden, um all diese Sepoys und Askaris und Mamelucken und Zuaven und Sherpas im eisernen Griff zu halten. Da kam der Gentleman wie gerufen. Etwa sechshundert Verhaltensmaßregeln wurden dem Mann - irgendeinem Mann, aus der gestaltlosen Menge herausgegriffen - eingebleut, und dann hatte man den Gentleman und setzte ihn auf ein Schiff und verfrachtete ihn mit einem Klavier und einem Schmetterlingsnetz und einem grünfilzigen Kartentisch nach Ozeanien, und dort ließ er es dann England werden. … Und an den langen Abenden gab es ein herrliches Gesellschaftsspiel: beherrschte jeder der Anwesenden die bewußten sechshundert Regeln? Wer einen Fehler machte, war kein Gentleman und mußte ausscheiden."
Das Wissen um die historische Verbürgtheit des Stoffes fügt dem Werk im übrigen nichts hinzu; darum berichtet der Autor wohlweislich auch nicht darüber. Es schadet aber auch mitnichten - der "Nebelfürst" gehört sicher zu den besten Büchern des nun schon recht vollständig überschaubaren Jahres.


   1 | 2 | 3 | 4 | 5 | 6   


Aktuelle Startcartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Nicht zu fassen, »Spiegel TV«!

Als uns der Youtube-Algorithmus Dein Enthüllungsvideo »Rechtsextreme in der Wikingerszene« vorschlug, wären wir fast rückwärts vom Bärenfell gefallen: In der Wikingerszene gibt es wirklich Rechte? Diese mit Runen tätowierten Outdoorenthusiast/innen, die sich am Wochenende einfach mal unter sich auf ihren Mittelaltermärkten treffen, um einer im Nationalsozialismus erdichteten Geschichtsfantasie zu frönen, und die ihre Hakenkreuzketten und -tattoos gar nicht nazimäßig meinen, sondern halt irgendwie so, wie die Nazis gesagt haben, dass Hakenkreuze vor dem Nationalsozialismus benutzt wurden, die sollen wirklich anschlussfähig für Rechte sein? Als Nächstes erzählst Du uns noch, dass Spielplätze von Kindern unterwandert werden, dass auf Wacken ein paar Metalfans gesichtet wurden oder dass in Flugzeugcockpits häufig Pilot/innen anzutreffen sind!

Nur wenn Du versuchst, uns einzureden, dass die Spiegel-Büros von Redakteur/innen unterwandert sind, glauben Dir kein Wort mehr:

Deine Blauzähne von Titanic

 Also wirklich, »Spiegel«!

Bei kleinen Rechtschreibfehlern drücken wir ja ein Auge zu, aber wenn Du schreibst: »Der selbst ernannte Anarchokapitalist Javier Milei übt eine seltsame Faszination auf deutsche Liberale aus. Dabei macht der Rechtspopulist keinen Hehl daraus, dass er sich mit der Demokratie nur arrangiert«, obwohl es korrekt heißen müsste: »Weil der Rechtspopulist keinen Hehl daraus macht, dass er sich mit der Demokratie nur arrangiert«, müssen wir es doch anmerken.

Fasziniert von so viel Naivität gegenüber deutschen Liberalen zeigt sich

Deine Titanic

 Anpfiff, Max Eberl!

Sie sind seit Anfang März neuer Sportvorstand des FC Bayern München und treten als solcher in die Fußstapfen heikler Personen wie Matthias Sammer. Bei der Pressekonferenz zu Ihrer Vorstellung bekundeten Sie, dass Sie sich vor allem auf die Vertragsgespräche mit den Spielern freuten, aber auch einfach darauf, »die Jungs kennenzulernen«, »Denn genau das ist Fußball. Fußball ist Kommunikation miteinander, ist ein Stück weit, das hört sich jetzt vielleicht pathetisch an, aber es ist Liebe miteinander! Wir müssen alle was gemeinsam aufbauen, wo wir alle in diesem gleichen Boot sitzen.«

Und dieser schräge Liebesschwur, Herr Eberl, hat uns sogleich ungemein beruhigt und für Sie eingenommen, denn wer derart selbstverständlich heucheln, lügen und die Metaphern verdrehen kann, dass sich die Torpfosten biegen, ist im Vorstand der Bayern genau richtig.

Von Anfang an verliebt für immer: Titanic

 Du, »Brigitte«,

füllst Deine Website mit vielen Artikeln zu psychologischen Themen, wie z. B. diesem hier: »So erkennst Du das ›Perfect-Moment -Syndrom‹«. Kaum sind die ersten Zeilen überflogen, ploppen auch schon die nächsten Artikel auf und belagern unsere Aufmerksamkeit mit dem »Fight-or-Flight-Syndrom«, dem »Empty-Nest-Syndrom«, dem »Ritter-Syndrom« und dem »Dead- Vagina-Syndrom«. Nun sind wir keine Mediziner/innen, aber könnte es sein, Brigitte, dass Du am Syndrom-Syndrom leidest und es noch gar nicht bemerkt hast? Die Symptome sprechen jedenfalls eindeutig dafür!

Meinen die Hobby-Diagnostiker/innen der Titanic

 Boah ey, Natur!

»Mit der Anpflanzung von Bäumen im großen Stil soll das Klima geschützt werden«, schreibt der Spiegel. »Jetzt zeigen drei Wissenschaftlerinnen in einer Studie: Die Projekte können unter Umständen mehr schaden als nützen.« Konkret sei das Ökosystem Savanne von der Aufforstung bedroht. Mal ganz unverblümt gefragt: Kann es sein, liebe Natur, dass man es Dir einfach nicht recht machen kann? Wir Menschen bemühen uns hier wirklich um Dich, Du Diva, und am Ende ist es doch wieder falsch!

Wird mit Dir einfach nicht grün: Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Einmal und nie wieder

Kugelfisch wurde falsch zubereitet. Das war definitiv meine letzte Bestellung.

Fabian Lichter

 Frühlingsgefühle

Wenn am Himmel Vögel flattern,
wenn in Parks Familien schnattern,
wenn Paare sich mit Zunge küssen,
weil sie das im Frühling müssen,
wenn überall Narzissen blühen,
selbst Zyniker vor Frohsinn glühen,
Schwalben »Coco Jamboo« singen
und Senioren Seilchen springen,
sehne ich mich derbst
nach Herbst.

Ella Carina Werner

 Parabel

Gib einem Mann einen Fisch, und du gibst ihm zu essen für einen Tag. Zeig ihm außerdem, wie man die Gräten entfernt, und er wird auch den folgenden Morgen erleben.

Wieland Schwanebeck

 Die Touri-Falle

Beim Schlendern durchs Kölner Zentrum entdeckte ich neulich an einem Drehständer den offenbar letzten Schrei in rheinischen Souvenirläden: schwarzweiße Frühstücks-Platzmatten mit laminierten Fotos der nach zahllosen Luftangriffen in Schutt und Asche liegenden Domstadt. Auch mein Hirn wurde augenblicklich mit Fragen bombardiert. Wer ist bitte schön so morbid, dass er sich vom Anblick in den Fluss kollabierter Brücken, qualmender Kirchenruinen und pulverisierter Wohnviertel einen morgendlichen Frischekick erhofft? Wer will 365 Mal im Jahr bei Caffè Latte und Croissants an die Schrecken des Zweiten Weltkriegs erinnert werden und nimmt die abwischbaren Zeitzeugen dafür sogar noch mit in den Urlaub? Um die Bahn nicht zu verpassen, sah ich mich genötigt, die Grübelei zu verschieben, und ließ mir kurzerhand alle zehn Motive zum Vorteilspreis von nur 300 Euro einpacken. Seitdem starre ich jeden Tag wie gebannt auf das dem Erdboden gleichgemachte Köln, während ich mein Müsli in mich hineinschaufle und dabei das unheimliche Gefühl nicht loswerde, ich würde krachend auf Trümmern herumkauen. Das Rätsel um die Zielgruppe bleibt indes weiter ungelöst. Auf die Frage »Welcher dämliche Idiot kauft sich so eine Scheiße?« habe ich nämlich immer noch keine Antwort gefunden.

Patric Hemgesberg

 Kehrwoche kompakt

Beim Frühjahrsputz verfahre ich gemäß dem Motto »quick and dirty«.

Michael Höfler

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

Titanic unterwegs
20.04.2024 Eberswalde, Märchenvilla Max Goldt
20.04.2024 Itzehoe, Lauschbar Ella Carina Werner
24.04.2024 Trier, Tuchfabrik Max Goldt
25.04.2024 Köln, Comedia Max Goldt