Inhalt der Printausgabe

Dezember 2001


Humorkritik
(Seite 4 von 6)

Reutters Raritäten

Gift, so haben Weise schon des Mittelalters festgestellt, gibt's gar nicht, es gibt nur falsche Dosierungen. Eine Erkenntnis, die ebenso fürs humoristische Fach gilt: Kaum ein branchenübliches Stilmittel, das grundsätzlich zu verdammen wäre; unerträglich werden die Unerträglichkeiten nur durch unerträglich häufige Verwendung. Umgekehrt gilt noch für die miserabelsten Manieren: Sporadisch eingesetzt, können sie durchaus manierlich wirken. Was selbst für Maschen gilt, wie sie von der aktuellen Comedy-Creme aufs schamloseste gepflegt werden, man denke nur an die Unsitte, Applaus zu erpressen durch Kommentare wie: "Aha, diesen Witz kapiert heut mal wieder keiner", ja, überhaupt jenes unsägliche Thematisieren der eigenen "Ich steh hier auf der Bühne und soll euch zum Lachen bringen"-Komikerexistenz. Daß tatsächlich auch solche Mittel taugen können, darüber hat mich das neuerliche Studium von Otto Reutters Couplets aufgeklärt, also jener "Vorträge" (so die originale Gattungsbezeichnung für Sprechgesangs-Stücke im Unterschied zu den an Tanzrhythmen gebundenen "Liedern"), mit denen der Berliner "Wintergarten"-Star (1870-1931) zum populärsten und folgerichtig höchstdotierten Brettlkünstler seiner Zeit avancierte.
Kalauer etwa verwendet Reutter als Raritäten, so daß ich mich über jeden von ihnen freue - zumal sie durchweg überraschend auftreten. So bleibt's dem weisheitsvollen Trostlied "In fünfzig Jahren ist alles vorbei" vorbehalten, eine Tasse angeblich echten Bohnenkaffees als "bohnenlose Gemeinheit" zu beschimpfen. Frappanter noch jenes Wortspiel, mit dem an anderer Stelle der Liebhaber einer gewissen Amalie deren kunstmalenden Gatten beschämt: "Du malst die Küste, und ich küß die Male - und dadurch gleicht sich alles wieder aus." Wie hübsch dieser Gag erst in der Orginal-Umgebung praktisch kalauerfreier Jahrzehnte gewirkt haben muß!
Dröges Publikum freilich muß es auch damals schon gegeben haben, und nicht weniger plump als heutige Animateure geht Reutter vor, wenn er in solchen Fällen unverblümt Applaus einfordert: "Oft steh ich hier auf der Bühne und sing ein Couplet / Und niemand will applaudieren, das tut einem weh. / Macht einer mal den Anfang, dann löst sich der Bann. / Aber keiner fängt an, aber keiner fängt an." Im Gegensatz zu heutigen Komödianten möchte ich Reutter hier kaum Koketterie unterstellen - weil es sich bei dieser um eine Reservestrophe für Notfälle gehandelt haben dürfte: Von den manchmal gut zwanzig Strophen, die er zu einem Refrain verfaßte, hat Reutter jeweils nur ausgewählte sechs oder acht zum Vortrag gebracht. In "Das macht uns Freude" thematisiert Reutter gar den eigenen Komiker-Ruhm, jede aufkeimende Peinlichkeit aber wird zertrümmert unter der Wucht der Schlußpointe: "Seh ich 'nen andern Humorist, / das macht mir Freude. / Sagt man mir, daß er besser ist, / das macht mir Freude. / Jawohl, ich kenne keinen Neid. / Drum denk ich voll Bescheidenheit: / Wenn er auch mehr als ich gefällt, / so kriegt er nicht das halbe Geld, / als wenn i c h hier Gesichter schneide. / Das macht mir Freude."
Geld erwirtschaftet der gebürtige Mecklenburger noch heute - immerhin bietet das Label Duoph mehrere CDs mit seinen Werken feil, und der Darmstädter Teich-Verlag hält gar volle sechs Bände "Unsterbliche Reutter-Vorträge" bereit. Die Investition in Reutter ist bedenkenlos anzuraten. Und wenn auch der Autor siebzig Jahre nach seinem Tod keinen Profit mehr daraus ziehen kann, darf er sich wenigstens als Prophet bestätigt sehen: Denn sein quanti- wie qualitativ spitzenmäßiger Titel "In fünfzig Jahren ist alles vorbei" läßt ausgerechnet das Geldverdienen unerwähnt.


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Aktuelle Startcartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Wieso so eilig, Achim Frenz?

Wieso so eilig, Achim Frenz?

Kaum hast Du das Zepter im Kampf um die Weltherrschaft der Komischen Kunst auf Erden in jüngere Hände gelegt, da schwingst Du Dich nach so kurzer Zeit schon wieder auf, um in den höchsten Sphären für Deine Caricatura zu streiten.

Mögest Du Dir auch im Jenseits Dein beharrliches Herausgeber-Grummeln bewahren, wünscht Dir zum Abschied Deine Titanic

 Apropos: ¡Hola bzw. holla, spanischer Priester!

Du hast Dir die Worte aus dem Matthäusevangelium »Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach« zu sehr zu Herzen genommen und in Deiner Gemeinde in der Kleinstadt Don Benito einen regen Handel mit Potenzmitteln betrieben. Für diesen nach weltlichem Ermessen offensichtlichen Sündenfall musst Du Dich nun vor einem irdischen Gericht verantworten.

Uns ist zwar nicht bekannt, ob Du Dich gegenüber Polizei und Justiz bereits bußfertig gegeben hast oder weiterhin auf das Beichtgeheimnis berufst. Angesichts der laut Zeugenaussagen freudigen Erregung Deiner überalterten Gemeindemitglieder beim Geläut der Glocken sowie ihres Durchhaltevermögens bei den nicht enden wollenden Eucharistiefeiern inklusive Rumgeorgel, Stoßgebeten und orgiastischer Gottesanrufungen sprechen alle Indizien aber ohnehin gegen Dich!

Bleibt auch ganz ohne künstliche Stimulanzien weiter standfest im Nichtglauben: Titanic

 Grunz, Pigcasso,

malendes Schwein aus Südafrika! Du warst die erfolgreichste nicht-menschliche Künstlerin der Welt, nun bist Du verendet. Aber tröste Dich: Aus Dir wird neue Kunst entstehen. Oder was glaubst Du, was mit Deinen Borsten geschieht?

Grüße auch an Francis Bacon: Titanic

 Wussten wir’s doch, »Heute-Journal«!

Deinen Bericht über die Ausstellung »Kunst und Fälschung« im Kurpfälzischen Museum in Heidelberg beendetest Du so: »Es gibt keine perfekte Fälschung. Die hängen weiterhin als Originale in den Museen.«

Haben Originale auch schon immer für die besseren Fälschungen gehalten:

Deine Kunsthistoriker/innen von der Titanic

 Gude, Fregatte »Hessen«!

Du verteidigst Deutschlands Demokratie zur Zeit im Roten Meer, indem Du Handelsrouten vor der Huthi-Miliz schützt. Und hast schon ganz heldenhaft zwei Huthi-Drohnen besiegt.

Allerdings hast Du auch aus Versehen auf eine US-Drohne geschossen, und nur einem technischen Fehler ist es zu verdanken, dass Du nicht getroffen hast. Vielleicht ein guter Grund für die USA, doch nicht auf der Erfüllung des Zwei-Prozent-Ziels zu beharren!

Doppelwumms von Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Neulich

erwartete ich in der Zeit unter dem Titel »Glückwunsch, Braunlage!« eigentlich eine Ode auf den beschaulichen Luftkurort im Oberharz. Die kam aber nicht. Kein Wunder, wenn die Überschrift des Artikels eigentlich »Glückwunsch, Braunalge!« lautet!

Axel Schwacke

 Tiefenpsychologischer Trick

Wenn man bei einem psychologischen Test ein Bild voller Tintenkleckse gezeigt bekommt, und dann die Frage »Was sehen Sie hier?« gestellt wird und man antwortet »einen Rorschachtest«, dann, und nur dann darf man Psychoanalytiker werden.

Jürgen Miedl

 Kehrwoche kompakt

Beim Frühjahrsputz verfahre ich gemäß dem Motto »quick and dirty«.

Michael Höfler

 Nichts aufm Kerbholz

Dass »jemanden Lügen strafen« eine doch sehr antiquierte Redewendung ist, wurde mir spätestens bewusst, als mir die Suchmaschine mitteilte, dass »lügen grundsätzlich nicht strafbar« sei.

Ronnie Zumbühl

 No pain, no gain

Wem platte Motivationssprüche helfen, der soll mit ihnen glücklich werden. »There ain’t no lift to the top« in meinem Fitnessstudio zu lesen, das sich im ersten Stock befindet und trotzdem nur per Fahrstuhl zu erreichen ist, ist aber wirklich zu viel.

Karl Franz

Vermischtes

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Das schreiben die anderen

Titanic unterwegs
20.04.2024 Eberswalde, Märchenvilla Max Goldt
20.04.2024 Itzehoe, Lauschbar Ella Carina Werner
24.04.2024 Trier, Tuchfabrik Max Goldt
25.04.2024 Köln, Comedia Max Goldt