Inhalt der Printausgabe
Ohrmuschelascher
von Ella Carina Werner
Kürzlich habe ich im Radio etwas Interessantes gehört. Es war um Mitternacht in einem dieser Lokalsender, wo nachts die großen Fragen auf den Tisch kommen: Shisha-Sucht, das Für und Wider von Gasgrills und die Einsamkeit beim Dreier. Diesmal ging’s um Aggressionen. Die ZuhörerInnen waren aufgefordert, anzurufen und, Hand aufs Herz, die »boshaftesten Gedanken«, die sie je gegenüber ihren Mitmenschen gehegt hätten, frank und frei zu benennen. Ein Mann rief an und konnte mit blecherner Stimme berichten, er sehne sich danach, allen Klimaforschern »ins Hirn zu scheißen«. Der Moderator hatte keinerlei Rückfragen. Eine junge Frau mit Fistelstimme offenbarte, sie träume manchmal davon, unter dem Audi ihres Ex eine Bombe zu platzieren, wobei sie sich im Anschluss für ihren »abartigen Gedanken« wortreich entschuldigte. Eine weitere Frau rief an. Ich schätzte ihre knitteralte Stimme auf Anfang achtzig. Sie räusperte sich und sagte, immer wenn sie ins Konzerthaus, namentlich die Hamburger Laeiszhalle ginge, das Orchester nach einem fulminanten Fortissimo ins Mezzopiano überginge und von dort weiter ins Pianissimo gleite, dann ganz verstumme und für Momente eine totenstille Pause eintrete, dass der ganze Saal vor Spannung erbebe, dann stelle sie sich vor, mit einem Male »Kuckuck!« zu rufen, so laut, dass alle Musizierenden zusammenzuckten und das rhythmische Gefüge auseinanderbräche. Dabei keckerte sie eine Weile diabolisch vor sich hin und legte dann auf.

Gewalt hat viele Gesichter.
Verzückt ging ich ins Bett. Von allen schönen Gewaltfantasien ist dies die allerschönste. In mir kam ein Gefühl der Verbundenheit mit der ruchlosen Greisin auf, denn auch ich trage seit Jahren ein paar ähnlich geartete Teufeleien in mir herum und bin bereit, sie zu teilen.
Ich gehe gerne auf Konzerte des Musikers Bernd Begemann: ein begnadeter Sänger und Liedermacher, ein Tausendsassa, der alles kann außer aufhören. Stets dauern seine Konzerte über vier Stunden. Wann immer jemand nach einer Zugabe verlangt, macht der nimmermüde Wirbelwind weiter, immer weiter, ob er will oder nicht. Irgendwann sind aber wirklich alle Lieblingslieder der Fans heruntergenudelt. Alle Zugaben sind gegeben, elf an der Zahl. Begemann ist erschöpft, nassgeschwitzt, ja komplett am Ende. Jetzt ist Feierabend, mehr geht nicht, nada, niets!
Das ist mein Part. Ich stehe da, in der schattigen Tiefe des Zuschauerraums, und öffne die listigen Lippen. »ZUGABE!« Alles klar! Begemann zwinkert mir zu, rappelt sich auf, um noch einmal, volle fünf Minuten, einen Song mit heiserer Stimme zu intonieren und im Anschluss von der Bühne zu wanken, würde da nicht … »ZU-GA-BE!« Drei Silben wie ein Peitschenhieb. Kein Problem! Der 58jährige Tanzbär mobilisiert noch einmal sämtliche Kräfte, zum allerletzten Mal. Zum vorletzten, vorvor ... So geht es weiter, immer weiter, ab 03.00 Uhr mit geschlossenen Augen, halb hängend über dem Verstärker, im Schlafanzug, bis der ganze Saal leergefegt ist von der Reinigungsfirma McClean.
Viele Menschen haben Aggressionen gegenüber KünstlerInnen und anderen erfolgreichen Menschen, das ist völlig normal. Jeder hat so seine Spezis. Ich sage nur, Eva Menasse. Würg! Allein der elfengleiche Nachname macht mich schon ganz gallig. Ich weiß nicht, wie die Dame aussieht, ihr Oeuvre ist mir rein gar nicht vertraut – umso besser, da kann ich mir ihr dünkelhaftes Dichterinnenface, die eiskalten Augen, die affige Turmfrisur sowie die mit blutrotem Lippenstift umpinselte Fressluke einfach selbst ausmalen.
Eva Menasse sitzt, nein thront hinter einem hölzernen Dichtertischchen in irgendeinem Literaturhaus, Stichwort Wasserglaslesung. Sie ruckelt ihre Lesebrille zurecht, zupfelt an ihrem cremefarbenen Kaschmirstrick und näselt in getragenem Ton das erste Kapitel ihres neuen Schundromans heraus, wobei ihre Stimme vor Ergriffenheit anschwillt. So sehr anschwillt, dass es sie nach zwei, drei Seiten nach einem guten Schluck Wasser drängt. Eva Menasse bedient sich aus der obligatorischen Wasserkaraffe, die ich an diesem Abend jedoch hinterrücks mit klarem Obstbrand gefüllt habe, Mirabellengeist, 78 Prozent. Natürlich lässt sich das zähe Stück nichts anmerken. Stoisch liest sie weiter. Gnadenlose Selbstdisziplin hat sie bis in die Bestsellerlisten gebracht. Nach ein paar weiteren Seiten lechzt die ausgedorrte Kehle jedoch wieder nach Flüssigkeit. Menasse nippt erneut am Glas, ach was, kippt es komplett hinunter. Pokerface total, außer dass ihr linkes Augenlid plötzlich geheimnisvoll zuckt. Das Spektakel dauert so 90 Minuten, bis dreiviertel der 2-Liter-Glaskaraffe leergemacht sind. Hackedicht, zitiert die Megäre am Ende noch irgendetwas Apokalyptisches aus dem Alten Testament, schlägt die Hacken ihrer Stilettos ab und intoniert Chansons einer französischen Satanssekte, zweistimmig, ehe sie von der Bühne taumelt, geradewegs gegen das Umtrunk-Tischchen, dessen Weingläser sie auch noch aussäuft, die Spritnase. Beim Signieren nennt sie die Literaturhausleiterin eine »minderbemittelte Sau«, malt nichts als eierige Kreise, entzündet eine Nelkenzigarette und ascht in die übergroßen Ohrmuscheln des Kulturbeauftragten der Stadt. Herrlich. Nach solchen Visionen kann ich immer gut schlafen.
Gerne begegnete ich auch einmal Peter Maffay, versonnen spazierend an irgendeinem malerischen See. »Guten Tag«, riefe ich lauthals, dass jeder es hörte, und höbe, sardonisch grinsend, eine Hand, »Peter Makkay!«, wie der Sänger mit bürgerlichem Namen heißt. Er hasst diesen Nachnamen, oh wie sehr er ihn hasst! Ausradiert hat er ihn aus seinem Leben und allen seinen Grundschulheften. Schon als Bub ersann er seinen ewigen Tarnnamen Maffay, obwohl Maggay, Mawway oder Mayyay auch recht hübsch gewesen wären. Natürlich würde ich den Menschenfreund und geistigen Vater von Tabaluga in Wirklichkeit nie so entehren, niemals. Gewaltfantasien sollte man nicht ausleben, höchstens mit ein paar Legomännchen oder Fingerpuppen nachspielen.
Jeder hat so seine Gewaltvorstellungen, ich, du und Margot Käßmann, ja die besonders, so wie sie auf den Gruppenfotos des Ökumenischen Kirchenrats immer guckt. Polen fantasieren finsterer als Finnen, Iren irren als Italiener, und Niederländer immer abgründig und voller Morbidität. Schweizer hingegen mit endlosen Einschüben, Abschweifungen und Nebenschauplätzen. Viele Fantasien sind kultiviert und geschmackvoll, andere plump und ein wenig täppisch, wie die meines ehemaligen Nachbarn Jürgen in meiner Heimatstadt, der uns Kinder oft um sich scharte und verkündete, er würde gerne einmal »Helmut Kohl in den Schwanz schießen« – dass Jürgen erst neun Jahre alt war, machte es nicht besser. Manche Gewaltvorstellungen sind kurz wie ein Sekundenschlaf, mit anderen wiederum kann man ein ganzes Wochenende auf der Klappcouch verbringen, wenn eine abendfüllende abgründige Gestalt wie Claus Kleber vorkommt. Einige sind gestochen scharf und präzise, andere vage, fast surreal. Einmal, ich war schon halb im Schlaf und etwas Frauenschnaps war wohl mit im Spiel, da fantasierte ich, ich ginge in ein Programmkino zu einer Nouvelle-Vague-Nacht, auf dem Kopf einen sehr hohen Hut. Ich setzte mich vor ein paar gut gefüllte Reihen. Den Hut nahm ich nicht ab. Hinter mir saßen Cineasten in schwarzen Rollkragenpullis und abgeranzten Gemütlichkeitshosen, darunter Matthias Brandt, Jean-Luc Godard und Lars Eidinger. Ob meiner Kopfbedeckung raschelten sie pikiert mit ihren Ültje-Erdnuss-Packungen. Mit ihren langen Fingernägeln scharrten sie über den Rücken meiner Sitzlehne und äußerten ihren Unmut (»Manno«, »Geht ja gar nicht«). »Fresse!« parierte mein Hut, denn es handelte sich um einen sprechenden Hut. Der Hut kannte alle Filme auswendig und konnte sämtliche Dialoge mitsprechen, wovon er im weiteren Verlauf des Abends reichlich Gebrauch machte, und lachen, ohrenbetäubend wiehern, an den lustigsten Stellen, und an den traurigen auch. Arme und Hände hatte der Hut obendrein, und mit diesen Händen stibitzte er Lars Eidinger im Sekundentakt Ültje-Erdnüsse, aber immer nur eine. Nicht sehr symbolträchtig, das Ganze, aber das habe ich auch nicht gesagt.

Gewaltfantasie No. 5 von Rainer Maria Woelki.
47 Prozent der Deutschen (Österreich: 63 Prozent!), las ich kürzlich, haben ab und an sogar richtiggehende Tötungsfantasien. Diese Fantasien sind gesellschaftlich weniger akzeptiert, außer sie betreffen Menschen, die bereits verstorben sind. Kaiser Barbarossa, die ungarische Blutgräfin Báthory, Pius XI, Pius XII, Johannes Paul II oder Benedikt XVI, kein Problem. Auch ich habe eine kleine, literarisch inspirierte Tötungsfantasie, möchte sie aber nicht erzählen. Obwohl, eigentlich doch: Schauplatz ist der Deutsche Arbeitgebertag im Estrel Hotel Berlin, 13. Stock. Nach stundenlangem Palaver tritt eines der Präsidiumsmitglieder ans Fenster, öffnet es, lehnt sich hinaus und fällt. Ein weiteres Präsidiumsmitglied, das die Szene beobachtet hat, möchte wissen, was passiert ist, geht ebenfalls zum Fenster, lehnt sich hinaus und fällt. Ein drittes Mitglied begibt sich zum Fenster, lehnt sich hinaus und fällt. »Plagiat! So enden alle meine Geschichten«, motzt der russische Schriftsteller Daniil Charms, lehnt sich zornig aus dem Fenster seiner St. Petersburger Wohnung und fällt, ehe auch noch Eva Menasse … So ist der Mensch, garstig und gemein. Wer von euch ohne Gewaltvorstellungen ist, werfe im Geiste den ersten Stein, aber bitte auf Wolfgang Kubicki.