Inhalt der Printausgabe

 

»Die Renaissance des Gentleman ist derzeit nicht nur medial in aller Munde. Soziologisch verbirgt sich dahinter die Rückkehr eines nostalgisch-konservativen Männlichkeitsideals, in der praktischen Umsetzung bedeutet dies ein ­gesteigertes Interesse an Produkten, Dienstleistungen und jener Lebensart, die den klassischen Herrn auszeichnen.« – Gentleman’s Circle Berlin

 

Ein herber Duft von Whisky, Tabak und Pflegeprodukten strömt mir entgegen, als ich die dunkle Holztür von Nick’s Barbershop in Frankfurt-Bornheim aufstemme. »Hey!« grüßt mich Nick, der mit einem Kunden beschäftigt ist. Ich erkenne ihn vom Foto auf der Homepage. »Bin in zwei Minuten bei dir.« Ich nutze die Gelegenheit, mich umzusehen. An den holzvertäfelten Wänden hängen alte Werbeplakate und Schwarzweißfotos von bärtigen Männern. Ein gigantischer Büffelschädel thront auf einer alten Vitrine. In einem Wildledersessel fläzt sich ein Kunde, der sich mit Nickelbrille, Karohemd, Hosenträgern und einem knautschgesichtigen Hund auf dem Schoß perfekt ins Inventar einfügt. Ein wohliges Röcheln ist zu vernehmen. Ob es von dem Hund kommt oder von dem stolzen Vollbart, den sich der Wartende unentwegt krault, ist schwer zu sagen. Von Zeit zu Zeit greift er in die Bonbonniere auf dem runden Holztisch, die mit bunt leuchtenden Speckwürfeln gefüllt ist. Es läuft Rap.

»Classic services for classic men« steht in ­vektorisierter Saloonschrift auf dem Flyer am Empfangstresen. Es ist ein seltsamer Stilmix, der Fragen aufwirft. Doch ein spitzes Klingeln reißt mich aus den Gedanken – ding! Es ist Nick, der hinter mir steht und einen Batzen Kautabak in einen Napf in der Ecke spuckt. Kräftige tätowierte Arme, Nadelstreifenweste, Kapitänsmütze. Sein Bart ragt dicht und kantig in den Raum wie ein frisch gebackenes Kastenbrot. Er drückt mir ein Glas Whisky in die Hand: »Was kann ich für dich tun?« Ich bitte ihn um einen Termin. Ein Blick auf die Taschenuhr verrät Nick, daß er mich »kurz einschieben« kann. Sehr gut! Daß ich plane, einen Artikel über Barbershops zu schreiben, die neuerdings wie Bartstoppeln aus der Epidermis schießen beziehungsweise aus dem Erdboden (wie Pilze), verrate ich zu diesem Zeitpunkt lieber noch nicht. Sogar im uncoolen Regensburg soll es jetzt einen geben, so hörte ich.

Ich nehme auf dem Friseurstuhl Platz. Nick macht sich sogleich mit dem Barbiermesser an mir zu schaffen und zählt mir die Vielfalt des Shop­angebots auf: »Wir machen viel mehr als nur ­Barberservice. Mußt mal am Wochenende vorbeikommen! Wir veranstalten Whiskyseminare, Pokerabende, Alt-Folk-Konzerte, Baconbrat­workshops, Zigarrenrauchrunden, Kreidetafel-Kalligraphiekurse und und und…« Ich bin beeindruckt. Es scheint zu stimmen, was man so hört: Der Barbershop ist mehr als nur ein besserer ­Frisör. Er ist ein Lebensgefühl, ein Rückzugsort für den modernen Mann von vorgestern.

Ein weiterer Kunde tritt ein. Er ist schätzungsweise Anfang zwanzig und trägt einen Frack. Auf seinem Zeigefinger rotiert ein Basketball. Sein Name ist Dirk, englisch ausgesprochen: Dörk. Er nimmt auf dem Stuhl neben mir Platz. »Jaaames!« brüllt Nick. Ein Koloß von gut und gerne hundertzwanzig Kilo tritt grußlos aus dem Hinterzimmer. In der Hand hält James ein Messer, das eher an das eines Fleischers erinnert. Mehrmals umschleicht er schnaufend den Kunden wie frisch erlegtes Beutegut, den Blick starr auf dessen Bart gerichtet. Dann stößt er einen dumpfen Schrei aus und zerlegt ihn, den Bart, mit wenigen, gezielten Hieben. Ich zucke mehrmals zusammen, Dirk hingegen nicht einmal mit der Wimper.

Als James sich eine Zigarre anzündet, gehe ich davon aus, daß die Prozedur beendet ist. Doch weit gefehlt! Er geht vor Dirk auf die Knie. Mit einem Zug zieht er die gesamte Zigarre weg, dann nimmt er Dirks frisch tranchierten Bart in den Mund und bläst den Rauch in ihn hinein. Georgia steamy wheeze heißt die Technik, der ich beiwohne, wie mir Nick gebannt zuflüstert. Dirk und James ­erheben sich, reichen sich die Hände, dann verläßt Dirk den Laden. Durch die Frontscheibe sehe ich, wie seinem Bart auf majestätische Art Zigarrenrauchschwaden entsteigen. Er schwingt sich auf sein Hochrad, knautscht zweimal beherzt die Ballhupe und fährt davon.

»Tja, da staunste, wie?« triumphiert Nick. »Ich hab James nachts in Amsterdam kennengelernt. Mein bester Mann!« Ja, ich staune, doch nicht nur über James, sondern auch über meinen Anblick im Spiegel. Nicht nur formschön ist mein Bart geworden, sogar länger als zuvor. »Nichts für ungut!« erwidert Nick meinen fragenden Blick, »Aber ich hab ein paar Extensions eingeflochten. So macht er mehr her!« Ich bin überaus zufrieden. Nick klatscht mir großzügig Pomade ins Haupthaar und schmiert es nach hinten, ganz im Stile eines alten Gentlemans mit sehr viel Pomade im Haupthaar. Dann brennt er mir mit einem glimmenden Draht das Shoplogo in die Kotelette. »Damit du nicht ­vergißt, wo du herkommst!« lacht er. 

Vielleicht liegt es am Zigarrenrauch, dem Duft des Harzes, das aus dem Mobiliar quillt, oder an den acht Gläsern Whisky, die ich während der Behandlung zu mir genommen habe, jedenfalls überkommt mich eine eigenartige Euphorie. Ich fühle mich rauh und gepflegt zugleich, altmodisch und zeitgemäß. 

James verschwindet im Hinterzimmer. Er ­donnert die Tür so heftig hinter sich zu, daß die Wände wackeln. Hier und da löst sich die Holzvertäfelung, ein Bilderrahmen gerät ins Wanken und fällt herunter. Ein klaffendes Loch wird in der Wand sichtbar, bzw. handelt es sich eher um einen Tunnel, einen orange wabernden Strudel. Irgendwie kommt er mir bekannt vor. »Nein, bitte nicht!« ruft Nick. Ich kann das wilde Pochen seines ­Herzens sehen. Ich beruhige ihn, gehe hinüber, um das Bild wieder aufzuhängen. Doch plötzlich schießt mir etwas aus dem Strudel entgegen, ein langer Stab, dessen Ende zu einer Art Haken gebo­­gen ist. Er fischt deutlich erkennbar nach Nicks Hals. Nicks Augäpfel schießen mit trötendem Geräusch aus den Augenhöhlen. Blitzschnell wird er geschnappt und schreiend in den Tunnel gezogen. Das Loch in der Wand schließt sich. Mir ist elend. Was zur Hölle war in dem Whisky? So gern hätte ich Nick noch Fragen gestellt. Welche Ausbildung er gemacht hat, zum Beispiel, und ob das Traditionshandwerk und der Eklektizismus aus Gentlemankult, Black Culture und Rockabilly nicht letzten Endes doch nur ein Deckmantel sind, um der vermeintlichen Entmannung durch einen postpatriarchalischen Gesellschaftswandel nachzuweinen. Doch diese Fragen werden wohl ungeklärt bleiben. Bedripst verlasse ich den Laden und staune abermals. Wo vorhin noch triste Fünfzigerjahre-Betonbauten waren, stehen nun Jugendstilvillen aneinandergereiht. Schnörkelige Straßen­laternen säumen das Kopfsteinpflaster, das vorher noch Asphalt war. Alles ist sepiafarben. Ich mache ein paar Schritte rückwärts, will zurück in den Laden, doch da ist kein Laden, nur eine kahle Wand. Ich gehe die Straße hinab. Eine Gruppe tätowierter Frauen in Petticoats geht an mir vorbei. Ein paar Matrosen pfeifen ihnen hinterher. Sie tragen Cornrows und tanzen Capoeira zu Marschmusik. Mein Kopf tut weh. Ich will nach Hause.

 

Leo Riegel

ausgewähltes Heft

Aktuelle Cartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Hallo, Literaturkritik!

Was ist los mit Dir? Alt geworden? Müde? Wir waren doch so gut aufeinander eingespielt: Du liest ein neues Werk von Raphaela Edelbauer (»Das flüssige Land«, 2019 / »Dave«, 2021), gerätst aus dem Häuschen, schreibst irgendwas wie »sprachlich souverän« und »Raffinesse« und »Kafka« und »enorme Sprachmächtigkeit« und abermals »Kafka«, und wir schauen uns das schwergelobte Werk etwas genauer an und finden lauter wundersame Stellen, die Du wahrscheinlich überlesen hast: »Der ganze Raum zitterte glückselig vor Neid wie ein trotziger Block Aspik« zum Beispiel. Oder: »Selbst wenn jemand bloß geschäftig und zielgerichtet den Gang hinunterging, war sein Streben vom Habitus eines Handgemenges«. Oder: »Da richtete sich Pawel jäh auf, und die Lider waren wie von transparenten Seilen an der Stirn aufgerafft.«

So weit, so gewohnt. Aber jetzt? Erscheint »Die Inkommensurablen«, Edelbauers dritter Roman in knapp dreieinhalb Jahren – und Du, Literaturkritik, versagst plötzlich. Mäkelst rum! Erstmalig! Hältst das zwar alles weiterhin für »glänzend« und »klaren Stil«, meinst aber, dass sich »da und dort kleine Fehler eingeschlichen« hätten; findest das Buch stur »faszinierend«, aber auch »faszinierend misslungen«; attestierst auf einmal »Manierismus«, ja stellst (mit dem Spiegel) die ganz großen bangen Fragen: »Mist oder Musil?«

Heißt das, dass Dir allmählich was schwant? Dass Du Lunte gerochen hast? Verdacht schöpfst? Dass Dir an Sätzen wie »Dessen Reaktion produzierte eine ungeheure Diskrepanz« oder »Junge Charmeure in Militäruniform liefen ein paar Mädchen nach, die sich beim Kaufen einer Brezel aus der Auslage eines groben Böhmen kokett umdrehten« irgendwas auf-, irgendwas missfällt – Du weißt nur noch nicht, was genau?

Und also R. Edelbauer bloß noch sieben oder acht Romane schreiben muss, bist Du in zehn oder elf Jahren auf dem Laufenden bist, was die Sprachmächtigkeit dieser Art von Literatur betrifft?

Na dann – durchhalten!

Wünscht Titanic

 Nice one, Ted Cruz!

Sie sind US-Senator und mittlerweile auch hierzulande als rechter Hardliner und Schwurbelkopf der Republikaner halbwegs bekannt. Derzeit setzen Sie sich für die Begrenzung auf zwei Amtszeiten für Senator/innen ein. Und wollen gleichzeitig für eine eigene dritte kandidieren.

Diesen Ansatz finden wir sehr vielversprechend, um die Anliegen Ihrer Partei durchzubringen. Sie sollten ihn unbedingt auch auf andere Themen anwenden! Unsere Vorschläge: Waffenniederlegungen gegen schärfere Waffengesetze, Abtreibungskliniken gegen Abtreibungen und offene Grenzen gegen Einwanderung.

Für weitere Tipps stehen jederzeit zur Verfügung:

Ihre Snowflakes von Titanic

 Bssssssssssssss, Bienen!

Bssssssssssssss, Bienen!

In den USA ist gerade ein Impfstoff für Euch freigegeben worden, nämlich gegen die Amerikanische Faulbrut, die Euch seit einer Weile dahinrafft. Nun wollten wir schon höhnen: »Haha, jetzt wird zurückgestochen! Da merkt Ihr mal, wie unangenehm das ist«, doch dann lasen wir die entsprechende Meldung genauer und erfuhren, dass das Vakzin gar nicht injiziert, sondern dem Gelée Royale für Eure Königinnen beigemengt wird. Erschreckend, wie sich wieder einmal die Impfgegner/innenlobby durchgesetzt hat!

Zeichnet somit erst mal keine Beeontech-Aktien: Titanic

 Gute Idee, Porsche-Vorständin Barbara Frenkel …

Sie haben Ihre Erwartung zum Ausdruck gebracht, dass die Regierung das (zufälligerweise auch von Porsche produzierte) synthetische Benzin, also E-fuels, subventionieren und somit billiger machen müsse. Denn: »Der Kraftstoff, den wir herstellen, ist viel zu teuer, als dass wir ihn so verwenden könnten.«

Dieser Superidee schließen wir uns gerne an: Wir tippen jetzt jedes Heft auf unseren eigens entwickelten »E-tools« (Kryptotinte), aber weil das doch aufwendiger ist als die Arbeit am PC, fordern wir dann gemeinsam mit Porsche Geld vom Staat, um die Heftkosten zu drücken, ja? Nein? Dann sehen Sie bitte endlich ein, dass Sie sich mit Ihrer ineffizienten Deppentechnologie auf dem Markt nicht durchsetzen werden, und sagen Sie Ihren peinlichen Brummbrumms Lebewohl.

Wünscht Ihnen keine gute Fahrt: Titanic

 Ach, »Welt«,

wohl mangels Materials bewarbst Du online einen sieben Jahre alten Artikel aus dem Archiv, und zwar mit den Worten: »Wenn ihr diese Wörter benutzt, wirkt ihr intelligenter.« Dazu ein wahlloses Foto einer jungen Frau.

Nun wollen wir Dich nicht enttäuschen, müssen aber doch auf einen wichtigen Umstand hinweisen, der Dir anscheinend entgangen ist. Man muss nämlich nicht nur bestimmte Wörter benutzen, um intelligent zu erscheinen, sondern diese auch noch in eine komplizierte Reihenfolge bringen, die oft ganz entscheidend ist.

Dumm für oft Welt hält Journalist/innen: Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Medienkritik

Ich kann diese Parfum-Influencer auf Youtube einfach nicht riechen.

Fabian Lichter

 Marktregeln

Leuten, denen es in der Supermarktschlange nicht schnell genug geht und die deshalb eine unschuldige Mitarbeiterin ankeifen, fehlt das nötige Kassenbewusstsein.

Viola Müter

 Beim mittelmäßigen Zahnarzt

»Bitte weit aufmachen! Nicht erschrecken, meine Mundhöhlentaschenlampe ist mir vorhin ins Klo gefallen, ich muss eine Wunderkerze benutzen.«

Torsten Gaitzsch

 It’s not a Bug

Als Gregor Samsa, Programmierer, eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett erfreulicherweise zu einem ungeheueren Feature verwandelt.

Christian Kroll

 Post vom Mediator

Beigelegt: ein Streit.

Andreas Maier

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

  • 24.02.:

    Die Deutsche Welle über das Krieg-Spezial im aktuellen Heft und andere themenverwandte Titel (Artikel in russisch, aut. Übersetzung).

  • 10.02.:

    Spiegel berichtet: "EU-Untersuchung Russland soll Fake-'Titanic'-Titelseiten verbreitet haben"

  • 10.01.: "Der Teufel vom Dachboden" – Eine persönliche Pardon-Geschichte in der Jungen Welt von Christian Y. Schmidt.
  • 13.12.:

    Anlässlich des 85. Geburtstages Robert Gernhardts erinnert Christian Y. Schmidt in der Jungen Welt an den Satiriker und Vermieter.

  • 26.10.:

    Chefredakteurin Julia Mateus spricht über ihren neuen Posten im Deutschlandfunk, definiert für die Berliner-Zeitung ein letztes Mal den Satirebegriff und gibt Auskunft über ihre Ziele bei WDR5 (Audio). 

Wenzel Storch: "Die Filme" (gebundene Ausgabe)
Renommierte Filmkritiker beschreiben ihn als "Terry Gilliam auf Speed", als "Buñuel ohne Stützräder": Der Extremfilmer Wenzel Storch macht extrem irre Streifen mit extrem kleinen Budget, die er in extrem kurzer Zeit abdreht – sein letzter Film wurde in nur zwölf Jahren sendefähig. Storchs abendfüllende Blockbuster "Der Glanz dieser Tage", "Sommer der Liebe" und "Die Reise ins Glück" können beim unvorbereiteten Publikum Persönlichkeitstörungen, Kopfschmerz und spontane Erleuchtung hervorrufen. In diesem liebevoll gestalteten Prachtband wird das cineastische Gesamtwerk von "Deutschlands bestem Regisseur" (TITANIC) in unzähligen Interviews, Fotos und Textschnipseln aufbereitet.
Zweijahres-Abo: 117,80 EURSonneborn/Gsella/Schmitt:  "Titanic BoyGroup Greatest Hits"
20 Jahre Krawall für Deutschland
Sie bringen zusammen gut 150 Jahre auf die Waage und seit zwanzig Jahren die Bühnen der Republik zum Beben: Thomas Gsella, Oliver Maria Schmitt und Martin Sonneborn sind die TITANIC BoyGroup. In diesem Jubiläumswälzer können Sie die Höhepunkte aus dem Schaffen der umtriebigen Ex-Chefredakteure noch einmal nachlesen. Die schonungslosesten Aktionsberichte, die mitgeschnittensten Terrortelefonate, die nachdenklichsten Gedichte und die intimsten Einblicke in den SMS-Speicher der drei Satire-Zombies – das und mehr auf 333 Seiten (z.T. in Großschrift)!
Titanic unterwegs
23.03.2023 Köln, Comedia Max Goldt
23.03.2023 Neuruppin, Kulturhaus Martin Sonneborn mit Gregor Gysi
25.03.2023 Meinerzhagen, Stadthalle Martin Sonneborn
02.04.2023 Fürstenfeldbruck, Kunsthaus Greser und Lenz