Inhalt der Printausgabe

Gesellschaft

VERHÄRTUNG

»Die Kessler kann hier noch was lernen!«

Im vergangenen Sommer ging Kai Diekmann, Chef der »Bild«-Zeitung, nach Amerika. Bei kalifornischen Spezialisten sollte er lernen, wie er den Leser wieder da abholt, wo er steht – außerdem hatte ihn inzwischen selbst die Springer-Witwe satt. Nun kehrt Deutschlands potentester Journalist zurück. Eine Spurensuche

„Du mußt es dir selbst machen, bevor es die anderen tun.“

Praller Sonnenschein, 45 Grad. Hitze-Chaos pur. Vor der Villa im Verschwendete-JugendStil stapeln sich die Umzugskartons. Der Hausherr spaziert mit freiem Oberkörper durch die aufgereihten Massivholzregale, vorbei an der schon leicht angeschmolzenen Helmut-Kohl-Wachsfigur, vorbei an der in Plexiglas gegossenen Locke Karl-Theodor zu Guttenbergs. Souvenirs aus dem bewegten Leben des Kai Diekmann.

Seine Frau Katja Kessler, 44, älter aussehend, schleppt die letzten Koffer in die Garage, Diekmann hilft ihr mit guten Ratschlägen zur korrekten Gewichtsverteilung im VW-Bus: »Die großen Sachen hintenrein! Wie in der Liebe, Schätzchen.« Als seine Gattin unter der dritten Deluxe-Hollywoodschaukel zusammenbricht, wendet er sich enttäuscht ab: »Manche schaffen hier in Garagen den Durchbruch. Die Kessler schafft nur ’nen Leistenbruch.«

Sein feiner Humor täuscht nicht darüber hinweg, daß Diekmann professionell geworden ist. Die kalifornische Luft, gesättigt mit Feeds, Tweets und Tits, hat ihn verändert. Wer jeden Tag mit Top-Managern, mit Buffern und Fluffern zu tun hat, hat für so etwas Banales wie einen Bandscheibenprolaps wenig Verständnis. Seit acht Monaten lebt Kai Diekmann, 48, im San Fernando Valley, dem Eruptionszentrum der amerikanischen Pornoindustrie. Ein Sabbatical, das ihm sein Verlag verschrieben hat. Denn die Auflage der Bild-Zeitung sinkt, und Diekmann fand kein Mittel, etwas dagegen zu tun. Ursprünglich sollte er ins Silicon Valley, aber da gab es nichts, was Diekmann nicht schon kannte: »Plastiktitten habe ich schon zu Hause; sie haben die Kessler ja gesehen.«

Im Juni wird Diekmann zur Bild zurückkehren. Er wird dann ein anderer sein. Sein Bildungsurlaub hat ihn verändert, hat ihn härter gemacht, zumindest am Morgen. Auf den ersten Blick würde man ihn rein äußerlich gar nicht erkennen. Aus dem schmierigen, aalglatten Medienfuzzi mit feist glänzender Zuhältervisage ist ein typischer Bewohner von San Fernando geworden: kräftige, leuchtende Gesichtshaut, geöltes Haar, an jedem Finger ein Ehering. Statt Armani-Hemden trägt er jetzt T-Shirts von der Stanford School of Anal Bleaching, Hosen nur noch zu feierlichen Anlässen. Ausgedörrt sieht er aus, richtig leergepumpt. Aus Deutschlands spritzigstem Boulevardhengst ist ein Nerd mit Sehnenscheidenentzündung geworden.

»Sie müssen mir auf Twitter folgen«, verabschiedet sich Diekmann von seiner Frau und rast mit seinem gepimpten Hummer die Straße hoch. Über seinem Auto wölben sich die Studiodächer von San Fernando; leise Lustschreie wehen gelegentlich herein. Diekmann stellt das Radio leiser. Am Bordstein wackeln zwei Damen o-beinig Richtung Feierabend. »Hier im Valley gehen die Huren anders«, scherzt Diekmann galant und läßt die Damen einsteigen. »Das sind Jinx und Ashley, sie sind Expertinnen für digitales Videomarketing. Eventuell kriegen wir heute zusammen noch ein paar Clips hoch.«

Mit großen Gesten stellt er den entsetzt blickenden Frauen seine Ideen vor, als sich plötzlich was in seiner Hose tut: Sein I-Phone vibriert lustvoll. Der Patentanwalt ist dran. Diekmann wird bleich, legt nach dem Gespräch ohne Abschiedsworte auf. »Also manchmal möchte ich mich einfach nur erschießen.« Es sind diese Momente, in denen Diekmann seinen Lesern ganz nahe ist. Vor wenigen Wochen, erklärt er, habe er einen echten »Valley-Gedanken« gehabt. »Hier geht’s ja ganz oft darum, die Funktionen von verschiedenen Geräten miteinander zu verbinden. ›Connection‹ nennen wir das hier. Und dann hatte ich die Idee zur ›Diekomatic‹: die erste Nutte, die auch Kaffee kochen kann. Mit Timerfunktion! Damit die Schlampe korrekt abrechnet.«

Und jetzt? Jetzt ist das Gerücht aufgekommen, daß Apple genau so eine Nutte bereits im Trainingscamp ausbildet. Apple war schneller als Diekmann. »That’s valley-life. If it doesn’t fuck you, you fuck it. Fuck!«

Im Valley sollte Diekmann lernen, wie die Großen zu denken – für Diekmann (2cm, sog. Hypogenitalismus) eine Herausforderung. Zur Zeit denkt er eher an kleine Sachen. Vor allem an neue Apps. Man müßte eine App erfinden, mit der man Gesichter erkennen kann. »Man fotografiert eine Passantin, die einem gefällt, und die App ermittelt eine Pornodarstellerin, die ihr ähnlich sieht.« Oder eine App, die ausrechnet, bei welchem Autounfall in der Region gerade die meisten Kinder ums Leben gekommen sind. »Die App checkt dann automatisch die Facebook-Fotos der Kinder und legt sie mir in den Newsroom, für die Titelseite. Alles, was ich noch tun muß, ist abspritzen!«

Diekmann hält vor einem rotbeleuchteten Bungalow. Hier wohnt er unter der Woche: »Das dumme Geschnatter von der Kessler spare ich mir fürs Wochenende auf.« Das Haus teilt er sich mit seinem IT-Berater Martin Sinner und seinem Marketingchef Matthias Geyer (Spiegel ). Vormittags kommt ein Asiate und fischt die Nutten vom Vorabend aus dem Jacuzzi; nachmittags kommen nacheinander der Klempner, der Milchmann und der Postbote. Heute ist jedoch ausnahmsweise ein junger Mann mit roten Haaren zu Gast: Catelyn Votz, 17. Ein Deutscher, der in San Fernando ein revolutionäres neues Tag-System für Youporn entwickelte. Er ist der heimliche Chefberater Diekmanns hier im Valley, stellt dem Trio jede Woche einen frischen Medikamentencocktail zusammen.

»Zeitungen sind wie Bettlaken«, meint Votz, »muffig und total verwichst!« Votz stellte drei Tage lang den Top-Kommentar beim »Harlem Shake« auf Youtube und entwickelte ein revolutionäres Mousepad mit Lotuseffekt, das selbst hartnäckigen Verkrustungen vorbeugt. Votz ist ein ganz und gar papierloser Mensch. Deswegen kann ihm Diekmann auch mit der Einwanderungsbehörde drohen, falls der Cocktail mal wieder nur ein »Virgin« ist.

Diekmanns PR-Chef Geyer teilt die Sorgen des jungen Schlawiners. Auch öffentlich: »Die Leute geben einfach nicht mehr so viel Geld für Zeitungen aus wie früher«, weinte er im Spiegel der Bild hinterher. Diekmann sei ein »Papierkönig«, und »Papierkönige sind gefährdete Könige«. Was der servile Wirrkopf (Henri-Nannen-Preis 2008) damit sagen will: Wichsen ist digital geworden, Papier wird dafür nicht mehr gebraucht. Oder nur mehr hinterher.

Was wird Diekmann mitnehmen aus dem Valley? Außer Chlamydien und (bei guter Führung) seine Frau? Wie sieht die Bild-Zeitung der Zukunft aus, lieber Kai? »Vom Sommer an wird Bild.de Geld kosten. Man kann an Unfallopfer ranzoomen, sich die Zerstückelung von Metzgermeistern live erklären lassen. Und danach ein schöner Flirt auf unserem Dating-Portal. Franz Josef Wagner freut sich schon auf viele aussagekräftige Zuschriften!« Und das Papier? »Niemand kann das haptische Erlebnis einer Zeitung ersetzen. Deswegen ist die Print-Ausgabe künftig genoppt und schmeckt nach Erdbeere.«

Er selbst wird bald wieder in seinem Haus an der Glienicker Brücke in Berlin sitzen (viertes Haus links, bei der Kunstgalerie). Auf der Dachterrasse, nackt, umsorgt von den Koch- und Lippenkünsten der Kessler, entspannt mit Votz, Rotz und Geyer skypend. Und wie immer wird er sich ein bißchen wundern, warum keiner vorbeikommt und ihn einfach abknallt. »Ein leichteres Ziel ist kaum vorstellbar«, schmunzelt Diekmann. Vielleicht ist diese kalifornische Entspanntheit das wichtigste Mitbringsel.

 

Leo Fischer / Moritz Hürtgen

ausgewähltes Heft

Aktuelle Cartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Ganz, ganz sicher, unbekannter Ingenieur aus Mittelsachsen,

dass Du Deine Verteidigungsstrategie nicht überdenken willst? Unter uns, es klingt schon heftig, was Dir so alles vorgeworfen wird: Nach einem Crash sollst Du einem anderen Verkehrsteilnehmer gegenüber handgreiflich geworden sein, nur um dann Reißaus zu nehmen, als der Dir mit der Polizei kommen wollte.

Die beim wackeren Rückzug geäußerten Schmähungen, für die Du nun blechen sollst, wolltest Du vor dem Amtsgericht Freiberg dann aber doch nicht auf Dir sitzen lassen. Weder »Judensau« noch »Heil Hitler« willst Du gerufen haben, sondern lediglich »Du Sau« und »Fei bitter«. Magst Du das nicht noch mal mit Deinem Rechtsbeistand durchsprechen? Hast Du im fraglichen Moment nicht vielleicht doch eher Deinen Unmut über das wenig höfische Verhalten des anderen Verkehrsteilnehmers (»Kein Ritter!«) geäußert, hattest Deinen im selben Moment beschlossenen Abschied von den sozialen Medien (»Bye, Twitter!«) im Sinn, oder hast gar Deiner verspäteten Freude über die olympische Bronzemedaille des deutschen Ruder-Achters von 1936 (»Geil, Dritter!«) Ausdruck verliehen?

Nein? Du bleibst dabei? Und würdest dafür sogar ins Gefängnis gehen (»Fein, Gitter!«)?

Davor hat fast schon wieder Respekt: Titanic

 Sie, Romancier Robert Habeck,

Sie, Romancier Robert Habeck,

nehmen Ihren Nebenjob als Wirtschaftsminister wohl sehr ernst! So ernst, dass Sie durch eine Neuauflage Ihres zusammen mit Ihrer Ehefrau verfassten Romans »Der Tag, an dem ich meinen toten Mann traf« versuchen, fast im Alleingang dem darniederliegenden Literaturmarkt auf die Sprünge zu helfen. Könnten Sie sich als Nächstes das Zeitschriftensterben vorknöpfen?

Fragt Titanic

 Damit hast Du nicht gerechnet, »Zeit online«!

Als Du fragtest: »Wie gut sind Sie in Mathe?«, wolltest Du uns da wieder einmal für dumm verkaufen? Logisch wissen wir, dass bei dieser einzigen Aufgabe, die Du uns gestellt hast (Z+), erstens der zweite Summand und zweitens der Mehrwert fehlt.

Bitte nachbessern: Titanic

 Huhu, »HNA« (»Hessische/Niedersächsische Allgemeine«)!

Mit großer Verblüffung lesen wir bei Dir in einem Testbericht: »Frischkäse ist kaum aus einem Haushalt in Deutschland wegzudenken.«

Och, Menno! Warum denn nicht? Und wenn wir uns nun ganz doll anstrengen? Wollen wir es denn, HNA, einmal gemeinsam versuchen? Also: Augen schließen, konzentrieren und – Achtung: hui! – weg damit! Uuuund: Futschikato! Einfach aus dem eigenen Haushalt weggedacht. Und war doch überhaupt nicht schlimm, oder?

Es dankt für die erfolgreiche Zusammenarbeit und hofft, einen kleinen Denkanstoß gegeben zu haben, wenn nicht gar einen Wegdenkanstoß: Titanic

 Keine Übertreibung, Mathias Richling,

sei die Behauptung, dass die Ampel »einen desaströsen Eindruck bei jedermann« hinterlasse, denn in den vielen Jahren Ihrer Karriere, so schilderten Sie’s den Stuttgarter Nachrichten, hätten Sie es noch nie erlebt, »dass ohne jegliche pointierte Bemerkung allein die bloße Nennung des Namens Ricarda Lang ein brüllendes Gelächter auslöst«.

Aber was bedeutet das? »Das bedeutet ja aber, zu Mitgliedern der aktuellen Bundesregierung muss man sich nichts Satirisches und keinen Kommentar mehr einfallen lassen.« Nun beruhigt uns einerseits, dass Ihr Publikum, das sich an Ihren Parodien von Helmut Kohl und Edmund Stoiber erfreut, wohl immerhin weiß, wer Ricarda Lang ist. Als beunruhigend empfinden wir hingegen, dass offenbar Sie nicht wissen, dass Lang gar kein Mitglied der aktuellen Bundesregierung ist.

Muss sich dazu nichts Satirisches und keinen Kommentar mehr einfallen lassen: Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Süße Erkenntnis

Für jemanden, der Pfirsich liebt, aber Maracuja hasst, hält die Welt viele Enttäuschungen bereit.

Karl Franz

 Nachwuchs

Den werdenden Eltern, die es genau mögen, empfehle ich meinen Babynamensvorschlag: Dean Norman.

Alice Brücher-Herpel

 Dilemma

Zum Einschlafen Lämmer zählen und sich täglich über einen neuen Rekord freuen.

Michael Höfler

 Hellseherisch

Morgen ist einfach nicht mein Tag.

Theo Matthies

 3:6, 6:7, 0:6

Der Volontär in der Konferenz der Sportredaktion auf die Bitte, seine Story in drei Sätzen zu erzählen.

Ronnie Zumbühl

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

Titanic unterwegs
29.11.2023 Stuttgart, Theaterhaus Max Goldt
30.11.2023 Erfurt, Franz Mehlhose Max Goldt
30.11.2023 Friedrichsdorf, Forum Friedrichsdorf Pit Knorr & Die Eiligen Drei Könige
01.12.2023 Hamburg, Centralkomitee Hauck & Bauer