Inhalt der Printausgabe

Jakob Augstein im Dialog mit einer Gesellschaft, der er aus der Seele spricht.

Von Stefan Gärtner

»Der Jude ist die menschgewordene Lüge.«
Joseph Goebbels

 

Daß Theodor W. Adorno »Spiegel online«, den Freitag oder ähnlichen Käse läse, könnten wir auch dann ausschließen, wenn der Meister noch lebte; er erführe ja auch nichts, was er nicht schon wüßte: »Ein besonders hintersinniges Argument ist: ›Man darf ja gegen Juden heute nichts sagen.‹ Es wird sozusagen gerade aus dem öffentlichen Tabu über dem Antisemitismus ein Argument für den Antisemitismus gemacht: Wenn man nichts gegen die Juden sagen darf, dann – so läuft die assoziative Logik weiter – sei an dem, was man gegen sie sagen könnte, auch schon etwas daran. Wirksam ist hier ein Projektionsmechanismus: daß die, welche die Verfolger waren und es potentiell heute noch sind, sich aufspielen, als wären sie die Verfolgten.«

Genau ein Halbjahrhundert ist Adornos Vortrag »Zur Bekämpfung des Antisemitismus heute« alt, doch »heute« ist noch längst nicht gestern. Aus der »Spiegel online«- Kolumne des Inhabers der Wochenzeitschrift Freitag, Jakob Augstein, vom 26. November 2012: »Jeder Kritiker Israels muß damit rechnen, als Antisemit beschimpft zu werden. Das ist ein gefährlicher Mißbrauch des Begriffs. Im Schatten solch falscher Debatten blüht der echte Antisemitismus.« Abgesehen davon, daß Blüte meist den Sonnen­schein bevorzugt – übersetzen wir uns das: Antisemitismus entsteht aus dem Vorwurf, einer sei Antisemit. Es ist also besser, mit diesem Vorwurf soweit als möglich hinterm Berg zu halten, um Antisemitismus nicht zu befeuern. Antisemitismus ist also nicht erst dann aus der Welt, wenn niemand was gegen Juden hat, sondern wenn man was gegen Juden haben darf, ohne fürchten zu müssen, als Antisemit beschimpft zu werden. Großdeutschland unterm »Nazi-Regime« (Der Spiegel) war also nicht antisemitisch. Wir hatten es geahnt.

Daß Augstein ein »lupenreiner Antisemit« sei, hatte Henryk M. Broder in einem vielbeachteten Ausfall bereits vermutet, dabei aber übersehen, wie sehr es dem smarten Verleger um Israel geht: »Immer häufiger wird Israels Besatzungspolitik mit dem Antisemitismus-Argument gegen jede Kritik in Schutz genommen. Dadurch verliert der Begriff seine Bedeutung und das Thema seine Würde. All das nützt den wirklichen Judenfeinden – und es schadet Israel.« »Immer häufiger« schreiben Journalisten, wenn sie zu faul oder nicht in der Lage sind, ihre Behauptungen zu belegen, zum Beispiel die, Israels Besatzungspolitik werde landauf, landab mit einem sog. Antisemitismus-Argument in Schutz genommen. Nun ist es aber eine verwegene, geradezu übergeschnappte These, es gäbe ausgerechnet in Deutschland, wo »Israelkritik« Volkssport ist und ein Krieg, der mit Hamas-Raketen auf Tel Aviv begann, medial eine arabische Opfergeschichte war, überhaupt so was wie eine pro­jüdische, proisraelische Front; und wer immer Verständnis dafür hätte, daß die Führer eines Volks, das vor nicht einmal drei Generationen der Auslöschung knapp entronnen ist, es im Umgang mit einem anderen Volk, dessen Führer eine solche Auslöschung nach wie vor befürworten, mitunter an Rücksicht und Einfühlungsvermögen fehlen lassen, nimmt tatsächlich Israel in Schutz, indem er es gegen den Vorwurf verteidigt, es sei ein imperialistischer Zio­nistenverein. Es wäre dies also tatsächlich ein Antisemitismus-Argument, aber eines, das den real existierenden, mörderischen Anti­semitismus der arabischen Welt in Rechnung stellt.

Aber Augstein, der – eine Berufskrankheit – die Gedanken, die er nicht hat, auch nicht ausdrücken kann, will auch was ganz anderes mitteilen; daß er nämlich der Sohn seines Vaters ist und weiß, welchen Schaden Moralkeulen anrichten: »Und da liegt das Problem: Je häufiger der Antisemitismus-Vorwurf für kurzfristige, politische Zwecke eingesetzt wird, desto irrelevanter wird er. Der Prozeß hat schon längst begonnen: Früher war es eine Schande, für einen Antisemiten gehalten zu werden. Inzwischen muß man solchen Vorwurf nicht mehr ernstnehmen. Im Meer der hirn- und folgenlosen Injurien des Internets geht auch diese Beschimpfung einfach unter.« Früher war es eine solche Schande, für einen Anti­semiten gehalten zu werden, daß Antisemiten am Rande der Gesellschaft als Richter, Industriekapitäne, Bundeskanzler oder -präsidenten vegetieren mußten; heute kann man seine Neigung wieder offen leben, weil Injurien im Internet untergehen bzw. in »Spon«-Kolumnen wandern, wo sie als Beweismittel für anti-antisemitische Tücke noch gute Dienste leisten: »Augstein, du bist und bleibst eine antisemitische Dreckschleuder. PS: immer schön aufpassen, wenn du über die Straße gehst. Diese Nachricht erreichte den Autor vor­kurzem über Facebook. Das Netz ist voller Wut und Wahnsinn. Aber dieser Angriff ist typisch für eine gefährliche Tendenz: Der Antisemitismus-Vorwurf wird inflationär gebraucht. Und er wird mißbraucht.«

Von wem, darf man sich denken.

Der Vorwurf des Antisemitismus, von Israel und seiner fünften Kolonne für kurzfristige, politische Zwecke eingesetzt, ist nämlich bloß da irrelevant, wo er nicht »auf den Vorwerfenden zurückfällt«, und wenn laut letztem regierungsamtlichen Antisemitismusbericht jeder fünfte was gegen Juden hat und 40 Prozent glauben, der Jude ziehe Vorteil aus der Shoa, dann liegt das laut Augstein an der ewig vorwurfsvollen Holocaust-Industrie: »Das Gedenken an den Holocaust wird zu niedriger Münze verkauft. Das Traurige ist: Am Ende bleibt nur ein Achselzucken. Inflationärer Gebrauch führt immer zur Entwertung.« Daß am Antisemitismus der Semit schuld ist, ist bekannt; um so trauriger, wenn er nichts draus lernt: »Als Südafrika beschloß, allen Importgütern aus israelischen Siedlungen im Westjordanland die Kennzeichnung ›Made in Israel‹ zu verweigern, bestellte das israelische Außenministerium den südafrikanischen Botschafter in Jerusalem ein. Ein Sprecher des Ministeriums sagte: ›Das erinnert an Ideen rassistischer Natur, die besonders die südafrikanische Regierung sofort zurückweisen sollte.‹ Wie soll man diese Argumentation nennen?« »Eine aus Schaden unkluge« wäre eine Möglichkeit, aber ein Schelm, wer nicht das Böseste dabei denkt: »Die Israelis nutzten das rhetorisch-politische Mittel der Inversion, der Umkehrung: Die Kritik an der eigenen Unterdrückung der Palästinenser wird selbst in einen rassistischen Zusammenhang gestellt. Und das im Dialog mit einer Gesellschaft, die ihrerseits Zeuge und Opfer furchtbarer rassistischer Verbrechen wurde. Man kann diese Argumentation nur zynisch nennen. Aber die Verteidiger der israelischen Machtpolitik«, in Deutschland bekanntlich die ­große Mehrheit, »werden auch diesen Befund als antisemitisch abtun.« Die nämliche Inversion dient aber guten Deutschen dazu, sich als Angehörige eines Volks, das Zeuge und Opfer furchtbarer rassistischer Verbrechen wurde, im Dialog mit Israel in der Pflicht zu sehen, auf die dortigen SS-Methoden mit besonderem Eifer hinzuweisen, was man zynisch nennen müßte, wären an der mit 50 Millionen Toten nicht zu teuer erworbenen deutschen Superiorität in Moralfragen noch etwa Zweifel möglich.

»Es geht bei diesen Auseinandersetzungen in Wahrheit um politische Interessen und Werte. Aber die vorgeblichen Freunde Israels sind bereit, für ihre politischen Interessen einen hohen Preis in Kauf zu nehmen: die Ernsthaftigkeit der Antisemitismus-Debatte.« Die Gender-Forscherin Judith Butler, die Hamas und Hisbollah, Organisationen, die dem Staat Israel den Tod wünschen, als »progressive soziale Bewegungen« und »Teil der globalen Linken« belobigt hat, kann in dieser Logik keine Antisemitin sein, eben weil Juden im In- und Ausland aus Gründen des politischen Interesses nicht einverstanden waren, daß solche Überzeugungen mit dem Frankfurter Theodor-W.-Adorno-Preis geehrt werden. Und wenn man Antisemitin gar nicht sein kann, verschlägt es auch nichts, wie eine zu reden: »Man versucht, diejenigen, die eine kritische Auffassung vorbringen, zu dämonisieren und so ihre Sichtweise zu diskreditieren. Es handelt sich um eine Taktik, die darauf abzielt, Menschen zum Schweigen zu bringen: Was immer man sagt, es ist von vornherein abzulehnen oder so zu verdrehen, daß die Triftigkeit des Sprechakts geleugnet wird.« Hier gibt es aber, sorry, nichts zu dämonisieren: »I think: Yes, understanding Hamas/Hezbollah as social movements that are progressive, that are on the left, that are part of a global left, is extremely important« (Butler), und wenn der Zentralrat protestiert und die israelische Presse vom Versuch spricht, Israel zu delegitimieren, dann wird überhaupt nicht die Triftigkeit des Sprechakts geleugnet, sondern die Triftigkeit dessen, was der Sprechakt hinterläßt.

»Darauf spekuliert tatsächlich einer der wesentlichen Tricks von Antisemiten heute: sich als Verfolgte darzustellen; sich zu gebärden, als wäre durch die öffentliche Meinung, die Äußerungen des Antisemitismus heute unmöglich macht, der Antisemit eigentlich der, gegen den der Stachel der Gesellschaft sich richtet, während im allgemeinen die Antisemiten doch die sind, die den Stachel der Gesellschaft am grausamsten und am erfolgreichsten handhaben« ­(Adorno, a.a.O.). Daß die Juden uns den Mund verbieten, ist das Gerücht über die Juden, das nach Adorno der Antisemitismus ist. Wer glaubt, daß es wahr sei, ist ein Antisemit. Augstein ist einer.

 

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Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Ei Gude, Nancy Faeser!

Ei Gude, Nancy Faeser!

Als Bundesinnenministerin und SPD-Spitzenkandidatin für die hessische Landtagswahl stellen Sie im Wahlkampf wöchentlich eine weitere Verschärfung des Asylrechts in Aussicht, um bei Ihren stockkonservativen hessischen Landsleuten zu punkten. Das Dumme ist nur, dass Sie damit bis jetzt bei Ihrer Zielgruppe nicht so recht ankommen. Der sind Sie einfach zu zaghaft.

Da hilft nur eins: Klotzen, nicht kleckern! Ihr Amtsvorgänger Horst Seehofer (CSU) hat es doch vorgemacht und sich über die Abschiebung von 69 Afghan/innen an seinem 69. Geburtstag gefreut! Das haben alle verstanden. Tja, Ihr 53. Geburtstag am 13. Juli ist schon rum, die Chance ist vertan! Jetzt hilft nur noch eins: gemeinsame Wahlkampfauftritte mit Thilo Sarrazin!

Und flankierend: eine Unterschriftensammlung gegen die Reform des Staatsbürgerschaftsrechts, die es Migrant/innen erleichtert, die deutsche Staatsbürgerschaft anzunehmen, ohne die eigene aufzugeben. Für Unterschriftenaktionen gegen die doppelte Staatsbürgerschaft sind die Hess/innen seit jeher zu haben (»Wo kann ich gegen die Ausländer unterschreiben?«). Und dass Sie damit gegen Ihren eigenen Gesetzentwurf agitieren – das werden die sicher nicht checken!

Darauf wettet Ihre Wahlkampfassistenz von der Titanic

 Du, Krimi-Autorin Rita Falk,

bist mit der filmischen Umsetzung Deiner zahlreichen Eberhofer-Romane – »Dampfnudelblues«, »Sauerkrautkoma«, »Kaiserschmarrndrama« – nicht mehr zufrieden. Besonders die allerneueste Folge, »Rehragout-Rendezvous«, erregt Dein Missfallen: »Ich finde das Drehbuch unglaublich platt, trashig, stellenweise sogar ordinär.« Überdies seien Szenen hinzuerfunden worden und Charaktere verändert. Besonders verabscheuungswürdig seien die Abweichungen bei einer Figur namens Paul: »Der Film-Paul ist einfach ein Dorfdepp.«

Platt, trashig, ordinär – das sind gewichtige Vorwürfe, Rita Falk, die zu einer vergleichenden Neulektüre Deiner Romane einladen. Da fällt uns übrigens ein: Kennst Du die Geschichte vom Dorfdeppen, der sich beschwert, dass der Nachbarsdorfdepp ihn immer so schlecht imitiert?

Wär’ glatt der Stoff für einen neuen Roman!

Finden Deine Trash-Flegel von Titanic

 Puh, 47jährige,

bei Euch läuft es ja nicht so rund gerade. »Nur mit Unterhose bekleidet: 47-Jähriger flippt an Trambahn-Haltestelle aus« müssen wir pfaffenhofen-today.de entnehmen. InFranken meldet: »143 Autos in vier Jahren zerkratzt – 47jähriger Verdächtiger wurde festgenommen«, und schließlich versaut Rammstein-Ekel Lindemann Euch noch zusätzlich das Prestige. Der ist zwar lang nicht mehr in Eurem Alter, aber von dem Lustgreis ist in letzter Zeit dauernd im Zusammenhang mit Euch die Rede, weil er sich als 47jähriger in eine 15jährige »verliebt« haben will.

Und wenn man sich bei so viel Ärger einfach mal einen antrinkt, geht natürlich auch das schief: »Betrunkener 47-Jähriger landet in Augustdorf im Gegenverkehr«, spottet unbarmherzig lz.de.

Vielleicht, liebe 47jährige, bleibt Ihr besser zu Hause, bis Ihr 48 seid?

Rät die ewig junge Titanic

 Sind Sie sicher, Rufus Beck?

Im Interview mit Deutschlandfunk Kultur zum 25. Jubiläum des Erscheinens des ersten deutschsprachigen »Harry-Potter«-Buchs kamen Sie ins Fantasieren: Würde Harry heutzutage und in der echten Welt leben, dann würde er sich als Klimaschützer engagieren. Er habe schließlich immer für eine gute Sache eingestanden.

Wir möchten Sie an dieser Stelle daran erinnern, dass Harry Potter ein Zauberer ist, sich folglich gar nicht für den Klimaschutz engagieren müsste, sondern ihn mit einem Schnips obsolet machen könnte. Da allerdings in sieben endlos langen »Harry Potter«-Bänden auch keine Klassenunterschiede, Armut oder gar der Kapitalismus weggezaubert wurden, fragen wir uns, warum Harry gerade bei der Klimakrise eine Ausnahme machen sollte. Aber wo Sie schon so am Fabulieren sind, kommen wir doch mal zu der wirklich interessanten Frage: Wie, glauben Sie, würde sich Ihr Kämpfer für das Gute zu Trans-Rechten verhalten?

Hat da so eine Ahnung: Titanic

 Sakra, »Bild«!

Da hast Du ja wieder was aufgedeckt: »Schauspieler-Sohn zerstückelt Lover in 14 Teile. Die dunkle Seite des schönen Killers. Im Internet schrieb er Hasskommentare«. Der attraktive, stinknormal wirkende Stückel-Killer hat Hasskommentare im Netz geschrieben? So kann man sich in einem Menschen täuschen! Wir sind entsetzt. Dieses Monster!

Indes, wir kennen solche Geschichten zur Genüge: Ein Amokläufer entpuppt sich als Falschparker, eine Kidnapperin trennt ihren Müll nicht, die Giftmischerin hat immer beim Trinkgeld geknausert, und das über Leichen gehende Hetzblatt nimmt’s gelegentlich mit der Kohärenz beim Schlagzeilen-Zusammenstückeln nicht so genau.

Grüße von der hellen Seite des Journalismus Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Löffelchenverbot

Ich könnte niemals in einer Beziehung mit Uri Geller sein. Ich will mich einfach für niemanden verbiegen.

Viola Müter

 Tagtraum im Supermarkt

Irre lange Schlange vor der Kirche. Einzelne Gläubige werden unruhig und stellen Forderungen. Pfarrer beruhigt den Schreihals vor mir: »Ja, wir machen gleich eine zweite Kirche auf!«

Uwe Becker

 Backpainer-Urlaub

Eine Thailandreise ist die ideale Gelegenheit, sich bei unzähligen Thaimassagen endlich mal jene Rückenschmerzen rauskneten zu lassen, die man vom Tragen des Rucksacks hat, den man ohne die Thailandreise gar nicht gekauft hätte.

Cornelius W. M. Oettle

 Kartoffelpuffer

Die obligatorische halbe Stunde, die deutsche Rentnerehepaare zu früh am Bahnhof erscheinen.

Fabio Kühnemuth

 Brotlose Berufsbezeichnung

Ich arbeite seit Jahren erfolgreich als honorarfreischaffender Künstler.

Jürgen Miedl

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

Titanic unterwegs
22.09.2023 Mainz, Frankfurter Hof Max Goldt
23.09.2023 Mönchengladbach, Theater im Gründungshaus Max Goldt
24.09.2023 Aschaffenburg, Hofgarten Thomas Gsella mit Hauck & Bauer
26.09.2023 Bern, Berner Generationenhaus Martin Sonneborn