Inhalt der Printausgabe
Hurra, die Bettler kommen! (3/3)
Am nächsten Morgen finden sich in der Frankfurter Rundschau, der Frankfurter Neuen Presse und der Regional-FAZ weitere Verleumdungen: Auf »aberwitzige Weise«, nämlich mittels »grotesker Flyer«, würden »Betrüger versuchen, im Westend an Geld und Wertsachen zu kommen«. Das Rote Kreuz sei »alarmiert«, und auch die Polizei ermittele. Ein böses Spiel mit den Interessen der Ärmsten! Beim »Roten Kreuz ohne Grenzen« blickt man nun mit etwas Sorge dem anberaumten Termin entgegen. Den Bürgern im Westend geht es ähnlich – das Wetter spielt nicht mit: »Was ist denn eigentlich, wenn das so weiterschneit und es liegen zehn Zentimeter Schnee oder so? Oder kann man auch einen Extratermin bei Ihnen kriegen? Weil wir sehr viel haben, aber es sind alles die Sachen, die Sie da aufzählen, daß Sie sie abholen würden«, winselt ein Herr Recknagel auf den AB. Extratermine werden nicht vergeben, denn das »Rote Kreuz ohne Grenzen« bleibt ungern länger an einem Ort, in Deutschland gilt es noch genügend andere Städte zu bebetteln.
Also zieht am darauffolgenden Mittwoch ein Haufen befremdlicher Gestalten mit ausgeprägtem Interesse am Besitz anderer ins Westend. Gekleidet in traditionelle Lumpen, seit drei Tagen ungewaschen und mit bittersüßem Mienenspiel begutachten die Sammelnomaden Haustüren, Einfahrten und Briefkästen. Doch enttäuscht müssen sie feststellen: Nichts steht bereit – keine Möbel, keine Pfandflaschen, auch nicht die erwartete Polizei. Die Schnorr-Azubinen Rebecca und Frederike erhalten auf ihre wiederholten Bettelversuche statt Geld und Wertsachen nur höfliche Ablehnung (»Geh weg!«). Frankfurts Bürger lassen sich nicht bange machen.
Sie haben zwar nichts zu geben, wenn ihnen jemand etwas wegnehmen will, stören sich aber auch nicht am Anblick einer Gruppe schlecht geschminkter Klischeezigeuner, deren Klebebärte sich bereits lösen. Zwar wechseln manche Frankfurter die Straßenseite oder ziehen den Nachwuchs unter den Mantel, ausgeprägte Feindseligkeit ist aber weit und breit nicht zu spüren. Der ein oder andere läßt sich sogar aus der Hand die nahe Zukunft lesen (»Ihre Leichtgläubigkeit kann Ihnen noch mal zum Verhängnis werden!«) – kostenlos natürlich.
Am Ende ist die Ausbeute deprimierend: ein paar warme Worte und kalte Füße. Doch Bettler ohne Grenzen haben ein Mittel gegen Depression: Freehlischkeit! In einer nahegelegen U-Bahnstation wird mit Fidel, Klampfe, Flöte und Tanzbein der Enttäuschung getrotzt: Die Wangen so bunt, die Haare so zottig, tanzen sie hin und her – tam ta ta ta ta tam tam ta tam tam ta tam – doch der Pappbecher, der bleibt leer. Die geschäftigen Großstädter ignorieren das bunte Treiben schlicht. Nach fünf Minuten reicht es dann, schließlich hält es den gemeinen osteuropäischen Sammler nicht länger an einem Ort. Zurück im Hauptquartier, die Pferde sind bereits gesattelt, klingelt doch noch einmal das »Rote Telefon«.
Herr Hesse
»Das ist aber sehr sehr schwach, gell«
Herr Hesse (weinerlich) Ich sollte hier ab Mittwoch 13 Uhr, 12 Uhr die Sachen rausstellen – »der Bettler kommt zu Ihnen« – aber es kam keiner.
TITANIC Dann haben Sie die Bettler verpaßt, denn die waren heute da.
Herr Hesse Ja. Des ist schön verpackt. Des steht vor meiner Tür. Ich kann es Ihnen nicht weiter bringen, weil ich bin gehbehindert.
TITANIC Was haben Sie denn vor die Tür gestellt?
Herr Hesse Ich hab zehn Paar Schuhe, die alle noch in sehr sehr gutem Zustand sind. Ich kann sie nicht mehr gebrauchen, ich kann nicht mehr laufen.
TITANIC In Ordnung, da müssen wir drüber nachdenken, ob wir vielleicht noch einmal jemanden vorbeischicken. Das ist bei Ihnen vor der Tür?
Herr Hesse Ja, es steht ja hier groß: »Kleider, Schuhe, Möbel, Altgold, Altgeld…« und und und.
TITANIC (forschend) Vielleicht gab es schon genügend Schuhe. Altgeld haben Sie keines mehr?
Herr Hesse Was, Altgeld?
TITANIC Haben Sie da noch welches, das wäre vielleicht leichter zu transportieren. An Schuhen, glaube ich, gab es schon genug.
Herr Hesse Nee, das Altgeld hab ich nicht mehr. Ich hab zehn Paar Schuhe, die sind so gut wie neu. Ich kann schon seit Jahren nicht mehr laufen, und die sind hier halt deponiert.
TITANIC Das Problem war: Jeder wollte Schuhe loswerden. Altgeld, da hätten wir noch Kapazitäten.
Herr Hesse (enttäuscht) Also, da steht oben groß »keine Werbung« und »Rotes Kreuz ohne Grenzen«, aber da tut sich nix. Das ist aber sehr sehr schwach, gell.
TITANIC Das tut mir leid.
Herr Hesse Ja. Also wird nix geholt?
TITANIC Nein.
Herr Hesse (trotzig) Dann schmeiß ich sie fort.
Da behaupte noch einer, in Deutschland herrsche Angst vor »Armutseinwanderung«, wenn gehbehinderte Senioren enttäuscht sind, weil der Bettler nicht bei ihnen klingelt! Und Herr Hesse bleibt nicht der einzige enttäuschte Spender, der sich am »Roten Telefon« beklagt.
Bundesinnenminister Friedrich kann noch so sehr zetern, die Städte können jammern und per Pressemitteilung dringlich warnen: Der Bürger läßt sich weder aus der Ruhe bringen noch das Weitergeben von Müll vermiesen. Zumindest solange alles seine Ordnung hat und ausreichend zertifiziert wird. Das heißt: Wenn Zigeuner sich nur ein wenig den deutschen Gesetzen und Gepflogenheiten anpassen, gibt es hier für sie einiges zu holen. Also auf, fahrendes Volk, komm zahlreich und mit großen Wagen! Irgendeine Schule steht immer leer, und allein im Frankfurter Westend gibt es mindestens zehn Paar Schuhe zu holen.
Gaitzsch / Hürtgen / Wolff, Hintner
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