Inhalt der Printausgabe

DER LETZTE MENSCH

Günter Wallraff – als Baum in Deutschland unterwegs

Bello kommt näher. Kalt drückt er seine Schnauze in meine Kniekehle. Schnuppert sich hoch, so lange, bis es schon nicht mehr lustig ist. Sein Herrchen steht daneben. Teilnahmslos. Tatenlos. Dann: der scharfe Geruch von Hundeharn. Mein Kostüm ist durchgeweicht, meine Borke juckt. Die Tarnung hält. So soll es mir noch häufiger gehen an diesem kalten Novembertag, an dem ich mein Experiment beginne.

 

Günter Wallraff hat vieles gesehen in seinem Journalistenleben. Er war der Türke Ali, Hans Dampf bei Bild, gab sich lange Jahre erfolgreich als Enthüllungsjournalist aus. Immer stieß er auf Vorurteile, Ausgrenzungen, Buchverträge. Schilderte Zustände, von denen bis dahin nur in der Zeitung zu lesen war. Die Artengrenze hat er dabei nie überschritten. Doch das Tabuthema Baum begleitet ihn schon seit den 70ern. Waldsterben, Borkenkäfer, der saure Regenwald. Bäume haben keine Lobby.

 

Kleine Kinder klettern an mir herum. Mein Ast bricht ab, doch ich kann einen Schmerzensschrei unterdrücken. »Sieh mal, der Baum harzt aus seinen Augen«, sagt das Kind. »Du, Mami, so einen hacken wir auch kaputt, zu Weihnachten, ja?« »Ja, Schatz. Bäume spüren ja nichts. Wir werden ihn in unserem Wohnzimmer halten, ihm alle möglichen Sachen aufladen. Bis er krank wird, nadelt, tot umfällt.« Lachend reißen sie mir zwei Äpfel aus dem Leib, beißen einmal hinein, werfen sie weg.

 

Wallraffs Vorbereitungen sind sehr viel aufwendiger geworden. Zu Recherchezwecken abonnierte er zwei Jahre lang Mein schöner Garten, trieb sich nachts im Kölner Holzfällermilieu herum, schlief in einem Bottich voller Blumenerde. Seine Masken sind stets makellos. Für seinen »Negerreport« schmierte er sich schwarze Zahnpasta ins Gesicht und schürzte die Lippen, als Türke Ali aß er viel Knoblauch und verprügelte seine Frau. »Der Baum« ist sein Meisterstück. Ein Team von Stylisten, Floristen und Baummeistern steckte ihm Wurzeln in die Hosentaschen, klebte ihm Laub ins Haar, setzte ihm Blattläuse in den Schnurrbart. Dann gossen sie ihm Wasser in den Hosenbund, bis er ausgewachsen war. Im November 2008 pflanzte sich Wallraff schließlich in den Parkfriedhof Ohlsdorf in Hamburg.

 

Austreiben, aufblühen, abwelken, abholzen. Die Routine ist mörderisch. Meine Mitbäume wachsen stumpf in den Himmel. Sie haben keine Bewegungsfreiheit. Einige verlieren im Laufe der Zeit ihre Blätter, andere leiden an eingeschnitzten Herzen. Und wenn sich einer mal Eichhörnchen einfängt, darf er trotzdem keine Stunde im Park fehlen. Aus ästhetischen Gründen, heißt es dazu aus dem Grünflächenamt.

 

Durch Aktionen wie diese besonders blöde hat sich Wallraff viele Feinde gemacht. Immer wieder legen ihm Unbekannte Journalistenpreise vor die Haustür, die zu gefährlichen Stolperfallen werden. Der Bundespräsident zierte sich angeblich mehrere Minuten lang, bevor er Wallraff nach einem zähen Telefongespräch das Bundesverdienstkreuz aushändigte. Auch mit mächtigen Firmen hat er sich angelegt. Bei Penny bekam Wallraff einmal keinen Parkplatz, mußte dem Geschäftsführer mit einer Exklusivrecherche drohen (»Kein Platz für Günter. Wie prominente Schriftsteller bei Penny behandelt werden«). Trägt die Arbeit Früchte? Bei den Bürgern kann Wallraff immer noch wenig Problembewußtsein feststellen, z. B. dafür, wie billig seine Bücher manchmal verramscht werden.

 

Die Parkbesucher interessieren sich nur für sich selbst. Sie hören Musik, lesen Bücher (»Ganz unten«), füttern die verdammten Eichhörnchen. Nur selten wird man auf Augenhöhe behandelt. »Guten Tag, Herr Wallraff«, grüßt eine alte Frau. Sie lächelt mitfühlend, tätschelt mir die Krone. Doch lange bleibt sie nicht stehen. Aus Angst, mit einem Baum gesehen zu werden? Oder hat sie die versteckte Kamera bemerkt, die neben mir auf einem Stativ montiert ist und von meinem Praktikanten Kwami Tag und Nacht bedient werden muß? Ich hoffe, daß sie dichthält. Als ich 2002 als »Sittenstrolch Rudi« im Toys’R’Us recherchierte, rief jemand sogar die Polizei.

 

Wallraff gibt nicht auf. Er kann nicht anders. Er hat nichts anderes gelernt. Im Februar nächsten Jahres möchte er als Cowboy verkleidet im Rheinland ermitteln. Er möchte zeigen, wie leicht sich im Deutschland des Jahres 2010 beschwipste Funkenmariechen flachlegen lassen. Wenigstens, wenn man Günter Wallraff heißt.

 

Günter Wallraff
ZWEIGNIEDERLASSUNG
Ich, Günter Wallraff, als Baum
verkleidet in einem
baumfeindlichen Land

KiWi, 200 Seiten,
mit vielen erschütternden Fotos
von Günter Wallraff

 

Fischer/Ziegelwagner

ausgewähltes Heft

Aktuelle Cartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Hey, »Zeit«,

Deine Überschrift »Mit 50 kann man noch genauso fit sein wie mit 20«, die stimmt vor allem, wenn man mit 20 bemerkenswert unfit ist, oder?

Schaut jetzt gelassener in die Zukunft:

Deine Titanic

 Und übrigens, Weltgeist …

Adam Driver in der Rolle des Enzo Ferrari – das ist mal wieder großes Kino!

Grazie mille von Titanic

 Grunz, Pigcasso,

malendes Schwein aus Südafrika! Du warst die erfolgreichste nicht-menschliche Künstlerin der Welt, nun bist Du verendet. Aber tröste Dich: Aus Dir wird neue Kunst entstehen. Oder was glaubst Du, was mit Deinen Borsten geschieht?

Grüße auch an Francis Bacon: Titanic

 Boah ey, Natur!

»Mit der Anpflanzung von Bäumen im großen Stil soll das Klima geschützt werden«, schreibt der Spiegel. »Jetzt zeigen drei Wissenschaftlerinnen in einer Studie: Die Projekte können unter Umständen mehr schaden als nützen.« Konkret sei das Ökosystem Savanne von der Aufforstung bedroht. Mal ganz unverblümt gefragt: Kann es sein, liebe Natur, dass man es Dir einfach nicht recht machen kann? Wir Menschen bemühen uns hier wirklich um Dich, Du Diva, und am Ende ist es doch wieder falsch!

Wird mit Dir einfach nicht grün: Titanic

 Genau einen Tag, Husqvarna Group (Stockholm),

nachdem das ungarische Parlament dem Nato-Beitritt Schwedens zugestimmt hatte, mussten wir was auf heise.de lesen? Dass auf Deinen Rasenmähern der »Forest & Garden Division« nach einem Software-Update nun der alte Egoshooter »Doom« gespielt werden kann!

Anders gesagt: Deine Divisionen marodieren ab sofort nicht nur lautstark mit Rasenmähern, Traktoren, Motorsägen, Motorsensen, Trennschleifern, Rasentrimmern, Laubbläsern und Vertikutierern durch unsere Gärten, sondern zusätzlich mit Sturmgewehren, Raketenwerfern und Granaten.

Falls das eine Demonstration der Stärke des neuen Bündnispartners sein soll, na schön. Aber bitte liefere schnell ein weiteres Software-Update mit einer funktionierenden Freund-Feind-Erkennung nach!

Hisst die weiße Fahne: Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Die Touri-Falle

Beim Schlendern durchs Kölner Zentrum entdeckte ich neulich an einem Drehständer den offenbar letzten Schrei in rheinischen Souvenirläden: schwarzweiße Frühstücks-Platzmatten mit laminierten Fotos der nach zahllosen Luftangriffen in Schutt und Asche liegenden Domstadt. Auch mein Hirn wurde augenblicklich mit Fragen bombardiert. Wer ist bitte schön so morbid, dass er sich vom Anblick in den Fluss kollabierter Brücken, qualmender Kirchenruinen und pulverisierter Wohnviertel einen morgendlichen Frischekick erhofft? Wer will 365 Mal im Jahr bei Caffè Latte und Croissants an die Schrecken des Zweiten Weltkriegs erinnert werden und nimmt die abwischbaren Zeitzeugen dafür sogar noch mit in den Urlaub? Um die Bahn nicht zu verpassen, sah ich mich genötigt, die Grübelei zu verschieben, und ließ mir kurzerhand alle zehn Motive zum Vorteilspreis von nur 300 Euro einpacken. Seitdem starre ich jeden Tag wie gebannt auf das dem Erdboden gleichgemachte Köln, während ich mein Müsli in mich hineinschaufle und dabei das unheimliche Gefühl nicht loswerde, ich würde krachend auf Trümmern herumkauen. Das Rätsel um die Zielgruppe bleibt indes weiter ungelöst. Auf die Frage »Welcher dämliche Idiot kauft sich so eine Scheiße?« habe ich nämlich immer noch keine Antwort gefunden.

Patric Hemgesberg

 No pain, no gain

Wem platte Motivationssprüche helfen, der soll mit ihnen glücklich werden. »There ain’t no lift to the top« in meinem Fitnessstudio zu lesen, das sich im ersten Stock befindet und trotzdem nur per Fahrstuhl zu erreichen ist, ist aber wirklich zu viel.

Karl Franz

 Wenn beim Delegieren

schon wieder was schiefgeht, bin ich mit meinen Lakaien am Ende.

Fabio Kühnemuth

 Nichts aufm Kerbholz

Dass »jemanden Lügen strafen« eine doch sehr antiquierte Redewendung ist, wurde mir spätestens bewusst, als mir die Suchmaschine mitteilte, dass »lügen grundsätzlich nicht strafbar« sei.

Ronnie Zumbühl

 Parabel

Gib einem Mann einen Fisch, und du gibst ihm zu essen für einen Tag. Zeig ihm außerdem, wie man die Gräten entfernt, und er wird auch den folgenden Morgen erleben.

Wieland Schwanebeck

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

Titanic unterwegs
20.04.2024 Eberswalde, Märchenvilla Max Goldt
20.04.2024 Itzehoe, Lauschbar Ella Carina Werner
24.04.2024 Trier, Tuchfabrik Max Goldt
25.04.2024 Köln, Comedia Max Goldt