Inhalt der Printausgabe

Die brandheisse Kontroverse:

Braucht Deutschland einen Mindestlohn?

PRO

Mark Tietze (35) ist Digitalbohemien und Erbe einer großen Steuerkanzlei. In seiner Freizeit leitet er die Jusos. Das Projekt »Mindestlohn« ist sein erster Versuch, sich mit einer ausgeflippten und völlig utopischen Forderung als Linksaußen zu profilieren und damit für höhere Aufgaben zu empfehlen.

Wer für Geld arbeitet, statt aus Freude am Erfolg, überschäumender Kreativität oder schierer Angeberei, gilt in unseren Kreisen nicht zu Unrecht als kleinlicher Tropf. Trotzdem: Vielen Menschen, die ihr Erbteil bei schillernden Champagnergelagen aufgezehrt haben, bleibt ja gar nichts anderes übrig. Sie müssen sich Mittag für Mittag in die Werbeagenturen quälen, müssen sich ihren Buckel über kräfteraubenden »Claims« und zentnerschweren »Copy-Texten« krummschuften, und das oft mehrere Stunden hintereinander! Wer sich aber seinen Arbeitstag mit endlosen Briefings, Meetings und Milchkaffeepausen versaut, sollte davon leben können. Und nicht dazu gezwungen sein, bis in die Nacht hinein auch noch Online-Börsengeschäfte zu tätigen. Oder einen Dritt- oder Viertjob in irgendeinem Aufsichtsrat anzunehmen!

 

Das aber ist heutzutage leider nicht mehr gewährleistet. Spätestens seit der Audi TT quattro Sport auf dem Markt ist, reicht ein Nettogehalt oft kaum für das Nötigste. Hier muß der Staat eingreifen – und zwar mit einem gesetzlich vorgeschriebenen Mindestlohn. Über dessen Höhe sollen sich meinetwegen mal irgendwelche Sesselpupser den Kopf zerbrechen.

 

Denn wichtig ist solch ein Mindestlohn gerade für Leute, die nicht mit einem Silberlöffel im Mund geboren wurden. Sondern die, so wie ich und meine Freunde, eine ganz normale, komplikationslose Geburt hatten – und dazu bereits ein schönes Aktiendepot bei einer Privatbank. Es ist nämlich so: Leute wie wir sehen Armut nicht gern, allein schon aus ästhetischen Gründen. Ein wohldosierter Mindestlohn könnte hier vielleicht das Schlimmste verhindern helfen. Und wenn die Arbeit gut gemacht wird, sind wir ja durchaus bereit, auch mal einen Fünfziger mehr springen zu lassen, in Ausnahmefällen sogar einen ganzen Euro!

 

Wichtig ist der Mindestlohn aber auch für die Sozialdemokraten. Zwar weiß keiner genau warum, denn die potentiellen Mindestlöhner wählen schon lange nicht mehr, und wenn, dann bestimmt nicht SPD. Aber der Partei selber gefällt das Gefühl, vielleicht ein letztes Mal etwas für die Minderbemittelten tun zu können, bevor es dann wieder an Steuergeschenke für die Superreichen und Subventionen für den langweiligen Mittelstand geht.

 

Besonders wichtig ist der Mindestlohn jedoch, wie ich hörte, für die Menschen da ganz unten in unserer Gesellschaft, Menschen, die völlig ohne Geld und Selbstbewußtsein durchs Leben müssen. Die gar nicht wissen, wie es sich anfühlt, ein Familienvermögen zu mehren oder wenigstens einen sechsstelligen Etat zu verwalten. Die auf Partys niemanden begeistern können, weil sie nichts zu erzählen haben, sondern uns die Häppchen bringen müssen und den Prosecco nachschenken und uns freundlich in den Mantel helfen. Wenn die für ihre bescheuerte Arbeit endlich einen Mindestlohn kriegten, könnte sich unsereiner öfter mal das Trinkgeld sparen.

 


CONTRA

Stefan Tietze (48) ist Philantrop, Unternehmensberater und Gründer der gemeinnützigen Tietze-Stiftung, die sich für eine gesetzliche Lohnobergrenze von 7,50 Euro einsetzt. Hauptsächlich berät er ein völlig undurchschaubares Finanzimperium, das ihm zum Glück selbst gehört. In seiner Freizeit quält er gern Tiere.

Um das von vornherein klarzustellen: Ich habe nicht im mindesten etwas gegen einen Mindestlohn. Von mir aus kann er auch gern 7,50 Euro betragen. Allerdings nicht pro Stunde. Für einen solchen Mindestlohn muß ich von meinen Leuten mindestens vier Stunden Arbeit erwarten dürfen. Und zwar richtig harte, schmutzige Arbeit mit chlorhaltigen Schlacken oder plutoniumverseuchten Reinigungsmitteln oder so. Sonst kann ich meine Firma ja gleich in ein Hochlohnland wie die Schweiz verlagern.

 

Was nämlich heute gern totgeschwiegen wird: Zu hohe Arbeitskosten sind ein schleichendes Gift. Sie vernichten erst den Wert, den die Arbeit für Unternehmer hat, dann die Arbeitsplätze, dann die Unternehmer und schließlich die gesamte Welt. Nachgerade lächerlich sind deshalb die Argumente der Mindestlohnbefürworter: So meinen gewerkschaftliche Betonköpfe darauf hinweisen zu müssen, daß Wachleute in Thüringen »nur 4,38 Euro« verdienen und sächsische Friseure »im ersten Berufsjahr nur 3,82 Euro«. Aber seien wir mal ehrlich: Das ist doch auch keine richtige Arbeit! Sondern Neigungssache: Der eine hat halt eine normale gesunde Sexualität, der andere trägt zum Knüppel gern eine Phantasieuniform oder wird Friseur im ersten Berufsjahr. Ich toleriere das, aber muß ich das mit meinem Geld auch noch fördern? Natürlich nicht. Mein Geld gehört mir, ich habe es mir mit harter Arbeit selbst verdienen lassen.

 

Überhaupt: Daß es für Arbeit Geld gibt, ist gar nicht so selbstverständlich, wie das heute überall dargestellt wird. Als die Pyramiden errichtet wurden, diese ewigen Monumente menschlicher Schaffenskraft, sahen ihre Erbauer keinen Cent dafür. Es waren ehrbare Männer, denen als Lohn die Gewißheit reichte, etwas Sinnvolles mit ihrem (kurzen) Leben angefangen zu haben. Ebenso die vielen Hausfrauen in der Geschichte der Menschheit: Man würde sie ja regelrecht entwürdigen und beleidigen, wenn man ihnen nachträglich Geld für ihre aufopferungsvolle Lebensleistung hinterherwerfen wollte. Die Redakteure einer großen deutschen Satirezeitschrift, so vernahm ich zuletzt, bezahlen sogar jeden Monat ein erkleckliches Sümmlein dafür, dort arbeiten und »sich selbstverwirklichen« zu dürfen. Vorbildlich! Damit wird nämlich das Problem umschifft, daß solche geringqualifizierten Arbeitnehmer meist nicht besonders viel in der Birne haben und das ihnen zur Verfügung gestellte Geld sowieso nur verplempern.

 

Wie gesagt: Ich habe nichts gegen einen Mindestlohn, aber bitteschön erstens ohne eine genau zu beziffernde Zahl, jedenfalls vor dem Komma, und zweitens ohne Rechtsanspruch! Es muß schon eine freiwillige Leistung des Arbeitgebers bleiben, was er den Leuten von seinem Eigentum abgibt. Liebe, Zuneigung, Aktienoptionen – die besten Dinge im Leben sind umsonst. Warum sollte es mit Arbeit eigentlich anders sein?

 

ausgewähltes Heft

Aktuelle Cartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Verehrte Joyce Carol Oates,

da Sie seit den Sechzigern beinah im Jahrestakt neue Bücher veröffentlichen, die auch noch in zahlreiche Sprachen übersetzt werden, kommen Sie vermutlich nicht dazu, jeden Verlagstext persönlich abzusegnen. Vielleicht können Sie uns dennoch mit ein paar Deutungsangeboten aushelfen, denn uns will ums Verrecken nicht einfallen, was der deutsche Ecco-Verlag im Sinn hatte, als er Ihren neuen Roman wie folgt bewarb: »›Babysitter‹ ist ein niederschmetternd beeindruckendes Buch, ein schonungsloses Porträt des Amerikas der oberen Mittelschicht sowie ein entlarvender Blick auf die etablierten Rollen der Frau. Oates gelingt es, all dies zu einem unglaublichen Pageturner zu formen. In den späten 1970ern treffen in Detroit und seinen Vorstädten verschiedene Leben aufeinander«, darunter »eine rätselhafte Figur an der Peripherie der Elite Detroits, der bisher jeglicher Vergeltung entkam«.

Bitte helfen Sie uns, Joyce Carol Oates – wer genau ist ›der Figur‹, dem es die elitären Peripherien angetan haben? Tragen die Leben beim Aufeinandertreffen Helme? Wie müssen wir uns ein Porträt vorstellen, das zugleich ein Blick ist? Wird das wehtun, wenn uns Ihr Buch erst niederschmettert, um dann noch Eindrücke auf uns zu hinterlassen? Und wie ist es Ihnen gelungen, aus dem unappetitlich plattgedrückten Matsch zu guter Letzt noch einen »Pageturner« zu formen?

Wartet lieber aufs nächste Buch: Titanic

 Prophetisch, »Antenne Thüringen«?

Oder wie sollen wir den Song verstehen, den Du direkt nach der von Dir live übertragenen Diskussion zwischen Mario Voigt und Björn Höcke eingespielt hast? Zwar hat der Thüringer CDU-Fraktionschef Höckes Angebot einer Zusammenarbeit nach der Wahl ausgeschlagen. Aber es wettet ja so manche/r darauf, dass die Union je nach Wahlergebnis doch noch machthungrig einknickt. Du jedenfalls lässt im Anschluss den Musiker Cyril mit seinem Remake des Siebziger-Lieds »Stumblin’ in« zu Wort kommen: »Our love is alive / I’ve fallen for you / Whatever you do / Cause, baby, you’ve shown me so many things that I never knew / Whatever it takes / Baby, I’ll do it for you / Whatever you need / Baby, you got it from me.« Wenn das nicht mal eine Hymne auf eine blau-schwarze Koalition ist!

Hätte sich dann doch eher »Highway to Hell« gewünscht: Titanic

 Ganz schön unentspannt, Giorgia Meloni!

Ganz schön unentspannt, Giorgia Meloni!

Nachdem Sie eine Klage wegen Rufschädigung eingereicht haben, wird nun voraussichtlich ein Prozess gegen den britischen Rockstar Brian Molko eingeleitet. Dieser hatte Sie bei einem Konzert seiner Band Placebo in Turin als Nazi und Faschistin bezeichnet.

Wir finden, da könnten Sie sich mal etwas lockermachen. Wer soll denn bitte noch durchblicken, ob Sie gerade »Post-«, »Proto-« oder »Feelgood-« als Präfix vor »Faschistin« bevorzugen? Und: Wegen solcher Empflichkeiten gleich vor Gericht zu gehen, kostet die Justiz so viel wertvolle Zeit. Die könnte sie doch auch nutzen, um Seenotretter/innen dingfest zu machen oder kritische Presse auszuschalten. Haben Sie darüber schon mal nachgedacht, Sie Snowflake?

Schlägt ganz gelassen vor: Titanic

 Gute Frage, liebe »Süddeutsche«!

»Warum haben wir so viele Dinge und horten ständig weiter? Und wie wird man diese Gier wieder los?« teast Du Dein Magazin an, dasselbe, das einzig und allein als werbefreundliches Vierfarb-Umfeld für teuren Schnickschnack da ist.

Aber löblich, dass Du dieses für Dich ja heißeste aller Eisen anpackst und im Heft empfiehlst: »Man kann dem Kaufimpuls besser widerstehen, wenn man einen Schritt zurücktritt und sich fragt: Wer will, dass ich das haben will?«

Und das weiß niemand besser als Du und die Impulskundschaft von Titanic

 Eher unglaubwürdig, »dpa«,

erschien uns zunächst Deine Meldung, Volker Wissing habe nach dem tödlichen Busunglück auf der A9 bei Leipzig »den Opfern und Hinterbliebenen sein Beileid ausgesprochen«. Andererseits: Wer könnte die Verstorbenen auf ihrem Weg ins Jenseits noch erreichen, wenn nicht der Bundesverkehrsminister?

Tippt aufs Flugtaxi: Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Gute Nachricht:

Letzte Woche in der Therapie einen riesigen Durchbruch gehabt. Schlechte Nachricht: Blinddarm.

Laura Brinkmann

 Die wahre Strafe

Verhaftet zu werden und in der Folge einen Telefonanruf tätigen zu müssen.

Fabio Kühnemuth

 100 % Maxx Dad Pow(d)er

Als leidenschaftlicher Kraftsportler wünsche ich mir, dass meine Asche eines Tages in einer dieser riesigen Proteinpulverdosen aufbewahrt wird. Auf dem Kaminsims stehend, soll sie an mich erinnern. Und meinen Nachkommen irgendwann einen köstlichen Shake bieten.

Leo Riegel

 Nicht lustig, bloß komisch

Während ich früher schon ein kleines bisschen stolz darauf war, aus einer Nation zu stammen, die mit Loriot und Heinz Erhardt wahre Zen-Meister der Selbstironie hervorgebracht hat, hinterfrage ich meine humoristische Herkunft aufgrund diverser Alltagserfahrungen jetzt immer öfter mit Gedanken wie diesem: Möchte ich den Rest meines Lebens wirklich in einem Land verbringen, in dem man während seiner Mittagspause in ein Café geht, das vor der Tür vollmundig mit »leckerem Hunde-Eis« wirbt, und auf seine Bestellung »Zwei Kugeln Labrador und eine Kugel Schnauzer« statt des fest eingeplanten Lachers ein »RAUS HIER!« entgegengebrüllt bekommt?

Patric Hemgesberg

 Konsequent

Die Welt steckt in der Spermakrise. Anzahl und Qualität der wuseligen Eileiter-Flitzer nehmen rapide ab. Schon in wenigen Jahren könnten Männer ihre Zeugungsfähigkeit vollständig verlieren. Grund hierfür sind die Verkaufsschlager aus den Laboren westlicher Großkonzerne. Diese Produkte machen den Schädling platt, das Plastik weich und das Braterlebnis fettfrei und wundersam. Erfunden wurden diese chemischen Erfolgsverbindungen von – Überraschung – Y-Chromosom-Trägern. Toll, dass sich Männer am Ende doch an der Empfängnisverhütung beteiligen.

Teresa Habild

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

Titanic unterwegs
27.04.2024 Schwerin, Zenit Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
28.04.2024 Lübeck, Kolosseum Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
29.04.2024 Berlin, Berliner Ensemble Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
30.04.2024 Hamburg, Kampnagel Martin Sonneborn mit Sibylle Berg