Inhalt der Printausgabe

Teil 5/9

Wer betet, wird gerettet!

»Wie gut, daß ich heute nicht so viel über Luther sagen muß!« freut sich da völlig zu Recht ein sehr sozialdemokratisch dreinschauender Pfarrer, der die Frankfurter Amtshilfe offenbar zu schätzen weiß, ganz im Gegensatz zu zwei älteren Herren, deren irres Gekicher den Schlingli noch toleriert, bei jedem der folgenden Scherzverse verhaltener wird und schließlich erstirbt. Nachdem wir auch in diese eiternde Wunde unsere bitterbösen Kabarettistenfinger gebohrt haben, holt Frontmann Sonneborn erste Publikumsreaktionen ein. »Wollt ihr noch ein Lied? Oder einen Sketch?« Die unmißverständliche Reaktion des Publikums läßt auch gestandenen Bühnenprofis wie uns keine Wahl: »Kein Lied!« Gut, daß die drei Aushilfskonfirmanden Gärtner, Nagel und Tietze siebzehn Sketche vorbereitet haben, deren verstörendster nun zur Aufführung gelangt: ein verhalten allegorischer Einakter, der mit den Mitteln des elisabethanischen Theaters die nie gestellten Fragen des Frühcalvinismus so pointiert wie elaboriert zu einer Basisanalyse des beschädigten Lebens verdichtet. Zu diesem Behufe hat Vikarsanwärter Hintner sehr schöne Schilder gemalt, auf denen »GLAUBE« bzw. »LIEBE« bzw. »TRAUM« steht und die den drei Vollblutlaienschauspielern zum allegorischen Zwecke um den Hals hängen.

Auch ganz »lustig«: Ernie, Bert und Fossibär (Mitte) spielen Thomas Bernhards »Claus Peymann kauft sich eine Hose und geht mit ihr zum Frisör«

Im Sinne der Brechtschen Illusionsdestruktion wird der Text unbeholfen abgelesen.

GLAUBE sitzt traurig herum. LIEBE kommt dazu.
LIEBE: Hey Glaube! Warum sitzt du denn da so traurig herum?
GLAUBE: Ach Liebe, die Leute fahren nicht mehr so auf mich ab.
LIEBE: Das ist schlimm, Glaube! Ich glaube, dich kennt einfach keiner mehr, Glaube!
GLAUBE: Du glaubst, Liebe? Glauben ist ja wohl mein Ressort!
LIEBE: Davon träumst du wohl, Glaube!
TRAUM (kommt dazu): Hat mich jemand gerufen?
LIEBE: He, Traum, du bist ja ganz feucht! Wie ist das denn passiert?
TRAUM: Du bist ja selber feucht, Liebe!
LIEBE: Gar nicht wahr, Traum!
GLAUBE: He, Traum und Liebe! Streitet euch nicht. Zusammen seid ihr doch unschlagbar!
TRAUM und LIEBE: He, das stimmt ja. Glaube hat recht! Wir sind ein super Team!
(Alle fallen sich in die Arme und tanzen.)

Allerdings nicht auf den billigen Zuschauerplätzen. Während etwa ein gutes Drittel der Thüringer schnurstracks das Weite sucht, verharrt der Rest wie paralysiert vor der Bühne.
Nach dieser fulminanten Comédie humaine muß es dann einfach aufwärts gehen: Die zwei frisch aus München exilierten »Joseph Beuys«, Bruder Max und Bruder Murmel, stellen im sexy Römerkostüm zu Drum‘n‘Bass-Playback in einwandfreiem Latein die Theodizee-Frage (»Tullius est pater, Tullia est mater, pater rogat: ubi sunt tabulae et stili?«), was vor allem zwei jugendliche Fans mit einem straighten wie auch tiefempfundenen »echt herb« quittieren.

Das haut dich um: Evangelium!

Dann performt Bruder Murmel mit Bruder Benjamin und Superintendentsazubi Gsella das instrumentale und mild melancholische »Jesus-Lied«, in dem eine so schief wie inbrünstig wie durchaus trommelfellzerbeißend und v.a. komplett unmotiviert geblasene Mundharmonika die Zuhörer über 6 Minuten 37 an ihre physischen Grenzen führt: Alles rennet, rettet, flüchtet oder hält sich zumindest verzweifelt die Ohren zu. Und da alle Versuche des Kirchentagstechnikers scheitern, durch Kabelgestrüpp und Bühnenchaos hindurch die Lautstärkeregler zu erreichen, fallen auch Passanten panisch vom Flanier- in den Sauseschritt. Als die Prüfung vorüber ist, nimmt immerhin der Mann vom Nachbarstand die Hände von den Lauschern, lacht herzlich und applaudiert erleichtert. Jeder Leidensweg, das weiß man in Erfurt, führt schließlich zur Erlösung.
Nachdem des Teufels Mundharmonika die Altstadt weiträumig geleert hat, müssen die Kabarett(chr)isten ihr Publikum zurückerobern und rufen zum großen Final-Potpourri. Viertelstundenlang folgt ein Hit dem vorigen: »Bleibt stehn, wenn ihr Christen seid« zu der Melodie von »Go West«, die man hier ja wohl zur Genüge kennen dürfte, »Sag zum Abschied leise Amen«, »Wann wird’s mal wieder richtig christlich?«, »Eisgekühlter Tabernakel«, »Pack die Taschenbibel ein«, »So ein Regionalkirchentag, so wunderschön wie heute«, wobei immerhin das groovige »Zieht den Moslems die Pluderhosen aus!« im Nazinest Erfurt auf unverhohlene Begeisterung stößt (»höhöhö!«).

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ausgewähltes Heft

Aktuelle Cartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Wussten wir’s doch, »Heute-Journal«!

Deinen Bericht über die Ausstellung »Kunst und Fälschung« im Kurpfälzischen Museum in Heidelberg beendetest Du so: »Es gibt keine perfekte Fälschung. Die hängen weiterhin als Originale in den Museen.«

Haben Originale auch schon immer für die besseren Fälschungen gehalten:

Deine Kunsthistoriker/innen von der Titanic

 Lustiger Zufall, »Tagesspiegel«!

»Bett, Bücher, Bargeld – wie es in der Kreuzberger Wohnung von Ex-RAF-Terroristin Daniela Klette aussah«. Mit dieser Schlagzeile überschreibst Du Deine Homestory aus Berlin. Ha, exakt so sieht es in unseren Wohnungen auch aus! Komm doch gern mal vorbei und schreib drüber. Aber bitte nicht vorher die Polizei vorbeischicken!

Dankend: Titanic

 Hey, »Zeit«,

Deine Überschrift »Mit 50 kann man noch genauso fit sein wie mit 20«, die stimmt vor allem, wenn man mit 20 bemerkenswert unfit ist, oder?

Schaut jetzt gelassener in die Zukunft:

Deine Titanic

 Sie, Victoria Beckham,

Sie, Victoria Beckham,

behaupteten in der Netflix-Doku »Beckham«, Sie seien »working class« aufgewachsen. Auf die Frage Ihres Ehemanns, mit welchem Auto Sie zur Schule gefahren worden seien, gaben Sie nach einigem Herumdrucksen zu, es habe sich um einen Rolls-Royce gehandelt. Nun verkaufen Sie T-Shirts mit dem Aufdruck »My Dad had a Rolls-Royce« für um die 130 Euro und werden für Ihre Selbstironie gelobt. Wir persönlich fänden es sogar noch mutiger und erfrischender, wenn Sie augenzwinkernd Shirts mit der Aufschrift »My Husband was the Ambassador for the World Cup in Qatar« anbieten würden, um den Kritiker/innen so richtig den Wind aus den Segeln zu nehmen.

In der Selbstkritik ausschließlich ironisch: Titanic

 Waidmannsheil, »Spiegel«!

»Europas verzweifelte Jagd nach Munition«, titeltest Du, und doch könnte es deutlich schlimmer sein. Jagd auf Munition – das wäre, so ganz ohne diese Munition, deutlich schwieriger!

Nimmt Dich gerne aufs Korn: Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Bilden Sie mal einen Satz mit Distanz

Der Stuntman soll vom Burgfried springen,
im Nahkampf drohen scharfe Klingen.
Da sagt er mutig: Jetzt mal ehrlich –
ich find Distanz viel zu gefährlich!

Patrick Fischer

 Treffer, versenkt

Neulich Jugendliche in der U-Bahn belauscht, Diskussion und gegenseitiges Überbieten in der Frage, wer von ihnen einen gemeinsamen Kumpel am längsten kennt, Siegerin: etwa 15jähriges Mädchen, Zitat: »Ey, ich kenn den schon, seit ich mir in die Hosen scheiße!«

Julia Mateus

 Teigiger Selfcaretipp

Wenn du etwas wirklich liebst, lass es gehen. Zum Beispiel dich selbst.

Sebastian Maschuw

 Neulich

erwartete ich in der Zeit unter dem Titel »Glückwunsch, Braunlage!« eigentlich eine Ode auf den beschaulichen Luftkurort im Oberharz. Die kam aber nicht. Kein Wunder, wenn die Überschrift des Artikels eigentlich »Glückwunsch, Braunalge!« lautet!

Axel Schwacke

 Dünnes Eis

Zwei Männer in Funktionsjacken draußen vor den Gemüsestiegen des türkischen Supermarkts. Der eine zeigt auf die Peperoni und kichert: »Hähä, willst du die nicht kaufen?« Der andere, begeistert: »Ja, hähä! Wenn der Esel dich juckt – oder nee, wie heißt noch mal der Spruch?«

Mark-Stefan Tietze

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

  • 27.03.:

    Bernd Eilert denkt in der FAZ über Satire gestern und heute nach.

Titanic unterwegs
31.03.2024 Göttingen, Rathaus Greser & Lenz: »Evolution? Karikaturen …«
04.04.2024 Bremen, Buchladen Ostertor Miriam Wurster
06.04.2024 Lübeck, Kammerspiele Max Goldt
08.04.2024 Oldenburg, Theater Laboratorium Bernd Eilert mit Klaus Modick