Inhalt der Printausgabe

Dreck u Speck u Kehricht

Über den Wortkünstler Reinhard Jirgl

»Immer diese Armeleutegeschichten!« ruft der Kommerzienrat Bolland in Ludwig Thomas Bühnenstück »Moral« aus. »Aber daß ’n Mensch mal ordentlich verdient, daß ’n Mensch was wird, das ist doch auch poetisch!«

 

Nicht so recht zufrieden wäre der Kommerzienrat Bolland vermutlich mit dem Werk des Schriftstellers Reinhard Jirgl gewesen. Hier ein kurzer, aber durchaus repräsentativer Auszug: »Altes, Gelebtes, Übriggebliebnes, mit Dreck u Speck u Kehricht u Schleifspuren u Knitterfalten u Greisenflecken u Grünspan u Lackab u Kratzriefen u Beulen im Blech u Teekannenbraun u abgestoßne Tassenränder reißzahngelb !O Heimat mit Porzellanecken ab Schiefes Zerlatschtes !O Glück u Verzogenes u Krummes u Klemmendes !O Seelenhort u Verquollnes u Weggeplatztes u Emaille u Farbsplitter aufgedröselter Faden & Scheiniges in staubigen rotbraunen Stores u Morgensonnenlicht durchschimmernd warm wie eine Hand u Tapetenblumen wahre Märchenwiesen u Pomadiges u Bröckeliges u Glittschiges u Moderdumpf die Stinkesäulen aus Abflußfäulness ragend u hartes Krümelgestreue..... lakenweit u Scheiße !Da haben wirs !Soweit mußtes ja kommen !Nicht zu vergessen die Scheiße dunkle Schatten im Unterhosenstoff der All-1gebliebenen« (Reinhard Jirgl: »Hundsnächte. Roman«, München und Wien 1997, S. 367).

 

Bisweilen klingt Jirgls Prosa auch wie die eines Gymnasiasten, der gerade sein erstes Fremdwörterlexikon geschenkt bekommen hat. Unermüdlich beschwört Jirgl die »Fäkalität«, die »Fraktalität«, die »Ornamentsynapsis«, »chthonisches Zittern«, »Skulptural-Projekte«, »Mogave-Aufschwünge«, die »Oszillation der Leere«, »die Haute Couture der Xyroniden« (o Gott o Gott), »das promessive Klonen« und »verschiedene Fasen der kulturellen Zyklik in Kollision« sowie den »Abendrauch orplider Fortschritts-Peepshow«. Oder auch so etwas: »Modulationen, schwingend im okkupierenden Rhythmus, Schnittpunkte, ReizeReizeEreignis! – Augenblick-Erhöhung – der-Mensch im Wort das Zeichen für Mensch, ein Filtrationsprodukt, eine grammatische Tatsache, off-line-Schöpfung gegen Konformationsatavismus: Semiotik gegen Hypotypose – u mittendrin, zentriert, immer Statisches, immer Strukturen, kristallines Zerebrum: Hochleistungsstorizität in Mbyte bei komplexer Indifferenz gegenüber dem Datenmaterial« (cf. Reinhard Jirgl: »Im offenen Meer. Schichtungsroman«, Hamburg und Zürich 1991, S. 11).

 

Sein »Totenbuch« namens »Das obszöne Gebet« (Frankfurt/M. 1993) hat Jirgl den altägyptischen Seelen »Achu, Bau, Khu; Bai, Ka, K’ibit« und »Sah« gewidmet und dem Werk eine zehn Seiten lange Interpretationshilfe vorangestellt (»Zur Erotik eines Textgebildes«). Darin erläutert Jirgl, weshalb er das eine Mal »und« und das andere Mal nur »u« schreibe und in anderen Fällen »&«, »+« oder »oder« oder »od« oder »od:« oder »:od« oder »u:«; letzteres »zum Ausdruck von Gegensätzen bzw. der Verflechtung mit Gegensatzpaaren, die als solche dennoch sichtbar bleiben sollen (z.B. ›Geburt u: Tod‹, ›Staat u: Gesellschaft‹)« – das wären sicherlich alles Hinweise von unschätzbarem Wert für ein Reinhard-Jirgl-Dechiffrier-Syndikat. Es hat sich nur noch keins gebildet.

 

Aber Jirgl (Jahrgang 1953) ist auf dem Vormarsch. Den Alfred-Döblin-Preis hat Jirgl schon erhalten, auch den Literaturpreis der Stadt Marburg und am 18. September 1999 in Vaduz den hochdotierten Joseph-Breitbach-Preis, und die Frankfurter Rundschau hat sich beeilt, Jirgls Dankesrede abzudrucken.

 

»Erinnern: Das heißt immer Wiedergängerei, den Blick aushalten auf die Bruchstellen der Lebenswirklichkeit (denn nur die Sprache mit ihren Begriffen ist kontingent)«, sagte Jirgl. »Erinnern, das ist Unruhe, Verstören, alles Dunkle auch und dann die Ängste, die kein Wort mehr unter Verschluss halten wollen, rührt die tiefste Erinnerung doch zugleich an jener tiefsten Unerfahrbarkeit des Menschen; nämlich woher wir kommen und wohin wir gehen.« Dort, wo es recht deutsch und dunkel und am tiefsten ist, geht Reinhard Jirgl um und fragt danach, woher wir kommen und wohin wir gehen, wiederum wie ein Abiturredner, der dem Lehrerkollegium mitteilen möchte, daß er den Ernst des Lebens erkannt habe. Durch die »Bruchstellen der Lebenswirklichkeit« ist Jirgl in die Tiefe getaucht und wettert nun, von tief unten, gegen die »Diktatur der Oberfläche« und das Geplapper derer, die keine Döblin-Preisträger sind und deshalb nicht so prunkvoll wie Jirgl von Hypotyposen, Filtration und orplider Fraktalität tirilieren können.

 

Sollte Jirgl also lieber schweigen, wenn alle außer ihm nur schwafeln? Nein: »Mit dem Verstummen des Schriftstellers aber würde nicht allein nur seine Gewalt als Autor verlöschen; in die Lücken derer, die sich der Sprache begeben und die Plätze des bewußt Kommunikativen räumen, fluten aller Lärm und die Ich-schwach gestellten Reflexe einer schreienden Mehrheit hinein.« Denn in der Flut geht Jirgls einsame Dichterstimme unter und mit ihr das gesamte christliche Abendland: »Und nun sind alle Dämme offen, alles ist erlaubt als Inszenierung für den Wühltisch im problemorientiert bestückten Supermarkt für transmediales Diskursieren; Meinungsplunder, Wissenschafts-, Weltanschauungs- und Life-style-Tinnef, dekoriert zu Digest-Häppchen weniger Standards einer selbstgefälligen, pseudoengagierten Ethik.«

 

Tief und dunkel ist der Sinn der Rede. Möglicherweise wollte uns der Dichter damit sagen, daß er zum Fähnlein der Aufrechten gehöre, die die »Plätze des bewusst Kommunikativen« stolz und mannhaft gegen die Flut des Bösen zu verteidigen gewillt seien. »Etwas nihilistisch Statisches, Statuarisches scheint die Gestalt solchen Schriftstellertyps zu markieren«, sagt Jirgl und meint sich selbst. Reinhard Jirgl, ein Fels in der Brandung! Ein Deichgraf, der sich sein entbehrungsreiches Hartbleiben zwischendurch aber auch gerne einmal mit dem Joseph-Breitbach-Preis versüßen läßt. Und damit hat es Reinhard Jirgl, man glaubt es kaum, doch tatsächlich geschafft, sich in der engen Marktnische der Edeldichter zwischen Botho Strauß und Peter Handke einen winzigen, erstaunlich lukrativen Stammplatz zu erkämpfen.

 

Aber ach, »anstelle des dichterischen Wortes«, das Jirgl so vortrefflich zu bemeistern weiß (»u«, »u:«, »od«, »:od«, »od:«), sind Jirgl zufolge in unserer verdorbenen Gesellschaft »die kompatiblen Wörter« getreten, nämlich die »vom Typ des schachernden Verdieners, Wörter nur auf Geldeinwurf, der Yuppie-Automat...«

 

Von den schachernden (ergänze: mauschelnden und krummnasigen) Verdienern und Lohnschreibern unterscheidet sich der Schichtungsromancier Jirgl radikal: Was er produziert, ist keine billige Handelsware und erst recht nicht »Dreck u Speck u Kehricht«, sondern selbstverständlich reine und hohe Dichtkunst, für die der höchstdotierte deutsche Literaturpreis gerade noch angemessen ist.

 

Daß deutsche Dichter dunkel und tief sein wollen, ist keine Neuigkeit. Daß sie sich viel darauf zugute halten, im Gegensatz zur »schreienden Mehrheit« außerordentlich »bewußt« zu kommunizieren, ist ebenfalls ein alter Hut. Aber daß sie 1999 unwidersprochen und mit dem Segen der Frankfurter Rundschau daherreden können wie die dümmsten Antisemiten aus dem Stefan-George-Kreis: Das ist neu.

 

Gerhard Henschel/Illustration: Greser&Lenz

ausgewähltes Heft

Aktuelle Cartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Wie bitte, Extremismusforscher Matthias Quent?

Im Interview mit der Tagesschau vertraten Sie die Meinung, Deutschland habe »viel gelernt im Umgang mit Hanau«. Anlass war der Jahrestag des rassistischen Anschlags dort. Das wüssten wir jetzt aber doch gern genauer: Vertuschung von schrecklichem Polizeiverhalten und institutionellem Rassismus konnte Deutschland doch vorher auch schon ganz gut, oder?

Hat aus Ihren Aussagen leider wenig gelernt: Titanic

 Erwischt, Bischofskonferenz!

In Spanien haben sich Kriminelle als hochrangige Geistliche ausgegeben und mithilfe künstlicher Intelligenz die Stimmen bekannter Bischöfe, Generalvikare und Priester nachgeahmt. Einige Ordensfrauen fielen auf den Trick herein und überwiesen auf Bitten der Betrüger/innen hohe Geldbeträge.

In einer Mitteilung an alle kirchlichen Institutionen warntest Du nun vor dieser Variante des Enkeltricks: »Äußerste Vorsicht ist geboten. Die Diözesen verlangen kein Geld – oder zumindest tun sie es nicht auf diese Weise.« Bon, Bischofskonferenz, aber weißt Du, wie der Enkeltrick weitergeht? Genau: Betrüger/innen geben sich als Bischofskonferenz aus, raten zur Vorsicht und fordern kurz darauf selbst zur Geldüberweisung auf!

Hat Dich sofort durchschaut: Titanic

 Sie, Victoria Beckham,

Sie, Victoria Beckham,

behaupteten in der Netflix-Doku »Beckham«, Sie seien »working class« aufgewachsen. Auf die Frage Ihres Ehemanns, mit welchem Auto Sie zur Schule gefahren worden seien, gaben Sie nach einigem Herumdrucksen zu, es habe sich um einen Rolls-Royce gehandelt. Nun verkaufen Sie T-Shirts mit dem Aufdruck »My Dad had a Rolls-Royce« für um die 130 Euro und werden für Ihre Selbstironie gelobt. Wir persönlich fänden es sogar noch mutiger und erfrischender, wenn Sie augenzwinkernd Shirts mit der Aufschrift »My Husband was the Ambassador for the World Cup in Qatar« anbieten würden, um den Kritiker/innen so richtig den Wind aus den Segeln zu nehmen.

In der Selbstkritik ausschließlich ironisch: Titanic

 Du, »Brigitte«,

füllst Deine Website mit vielen Artikeln zu psychologischen Themen, wie z. B. diesem hier: »So erkennst Du das ›Perfect-Moment -Syndrom‹«. Kaum sind die ersten Zeilen überflogen, ploppen auch schon die nächsten Artikel auf und belagern unsere Aufmerksamkeit mit dem »Fight-or-Flight-Syndrom«, dem »Empty-Nest-Syndrom«, dem »Ritter-Syndrom« und dem »Dead- Vagina-Syndrom«. Nun sind wir keine Mediziner/innen, aber könnte es sein, Brigitte, dass Du am Syndrom-Syndrom leidest und es noch gar nicht bemerkt hast? Die Symptome sprechen jedenfalls eindeutig dafür!

Meinen die Hobby-Diagnostiker/innen der Titanic

 Aaaaah, Bestsellerautor Maxim Leo!

In Ihrem neuen Roman »Wir werden jung sein« beschäftigen Sie sich mit der These, dass es in nicht allzu ferner Zukunft möglich sein wird, das maximale Lebensalter von Menschen mittels neuer Medikamente auf 120, 150 oder sogar 200 Jahre zu verlängern. Grundlage sind die Erkenntnisse aus der sogenannten Longevity-Forschung, mit denen modernen Frankensteins bereits das Kunststück gelang, das Leben von Versuchsmäusen beträchtlich zu verlängern.

So verlockend der Gedanke auch ist, das Finale der Fußballweltmeisterschaft 2086 bei bester Gesundheit von der heimischen Couch aus zu verfolgen und sich danach im Schaukelstuhl gemütlich das 196. Studioalbum der Rolling Stones anzuhören – wer möchte denn bitte in einer Welt leben, in der das Gerangel zwischen Joe Biden und Donald Trump noch ein ganzes Jahrhundert so weitergeht, der Papst bis zum Jüngsten Gericht durchregiert und Wladimir Putin bei seiner Kolonisierung auf andere Planeten zurückgreifen muss? Eines will man angesichts Ihrer Prognose, dass es bis zum medizinischen Durchbruch »im besten Fall noch 10 und im schlimmsten 50 Jahre dauert«, ganz bestimmt nicht: Ihren dystopischen Horrorschinken lesen!

Brennt dann doch lieber an beiden Enden und erlischt mit Stil: Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Dünnes Eis

Zwei Männer in Funktionsjacken draußen vor den Gemüsestiegen des türkischen Supermarkts. Der eine zeigt auf die Peperoni und kichert: »Hähä, willst du die nicht kaufen?« Der andere, begeistert: »Ja, hähä! Wenn der Esel dich juckt – oder nee, wie heißt noch mal der Spruch?«

Mark-Stefan Tietze

 Tiefenpsychologischer Trick

Wenn man bei einem psychologischen Test ein Bild voller Tintenkleckse gezeigt bekommt, und dann die Frage »Was sehen Sie hier?« gestellt wird und man antwortet »einen Rorschachtest«, dann, und nur dann darf man Psychoanalytiker werden.

Jürgen Miedl

 Überraschung

Avocados sind auch nur Ü-Eier für Erwachsene.

Loreen Bauer

 Kehrwoche kompakt

Beim Frühjahrsputz verfahre ich gemäß dem Motto »quick and dirty«.

Michael Höfler

 Treffer, versenkt

Neulich Jugendliche in der U-Bahn belauscht, Diskussion und gegenseitiges Überbieten in der Frage, wer von ihnen einen gemeinsamen Kumpel am längsten kennt, Siegerin: etwa 15jähriges Mädchen, Zitat: »Ey, ich kenn den schon, seit ich mir in die Hosen scheiße!«

Julia Mateus

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

Titanic unterwegs
19.04.2024 Wuppertal, Börse Hauck & Bauer
20.04.2024 Eberswalde, Märchenvilla Max Goldt
20.04.2024 Itzehoe, Lauschbar Ella Carina Werner
24.04.2024 Trier, Tuchfabrik Max Goldt