Artikel
Ratzefummeln in Remscheid – Pläne gegen den Lehrermangel
Alarm: Die Schulzeit beginnt und an Deutschlands Lehranstalten fehlt es an qualifiziertem Personal sowie vielfach an Lehrern. Doch die Bundesländer sind nicht auf den Kopf gefallen und kreieren mit reichlich Improvisationstalent ihre eigenen Lösungen. Eine Reportage.
"S und T wird nie getrennt ...", kräht es durch den Klassenraum der Alpengrundschule Berchtesgaden-Ost, dass die Schüler der Klasse 2b flugs mit einstimmen: "Auch wenn das ganze Schulhaus brennt!" "Na bitte, geht doch, ihr Doofköppe", donnert Adolf-Wilhelm Hindenburg. Der staatlich ausgebildete Volksschullehrer ist 93 Jahre alt. Sein Holzstock dient ihm nicht nur als Gehhilfe, sondern auch als Waffe im täglichen Kampf mit den "Höllenbraten", wie er seine Zöglinge seit dem Referendariat 1952 liebevoll nennt. Andere Regionen klagen über Hunderttausende offene Stellen, insbesondere an Grundschulen. Oberbayern nicht. "Offene Stellen hab ich nur an den Beinen", ulkt der gefragte Greis, während er seinen Tageslichtprojektor von einem Klassenraum zum nächsten wuchtet.
Die bayerische Erfolgsformel: ehemalige Lehrkräfte verpflichten, vor allem aus den Jahrgängen 1920 bis 1935. Als pensionierter Studienrat sei man "Reservist", lebenslang. "Einmal Staatsdiener, immer Staatsdiener", krakeelt Hindenburg sehr zufrieden, nicht zuletzt aufgrund seiner mit dem Alter ansteigenden Beamtenbesoldung. Zurzeit sind es monatlich 13 600 Euro. Sicher, als der siebzehnfache Urgroßvater im Schuljahr 2018/2019 nach langer Auszeit wieder einstieg, hatte er zunächst ein wenig Bammel. Mit neumodischen Ideen wie Gruppenarbeit, gewaltloser Kommunikation und Gymnasialempfehlungen auch für Mädchen konnte er nicht viel anfangen, auch Englisch in der Grundschule ("Ist das nicht die Feindsprache?") bleibt ihm bis heute fremd. Nur die Methode der "Binnendifferenzierung", um auf jeden Schüler individuell einzugehen, gefällt dem ehemaligen Fahnenjunker sehr, "vor allem auf dem Gebiet der Strafen." Kopfnüsse, Ohren langziehen, mit dem Lineal eins, zack, auf die Fingerknöchel, "jeder nach seinen Bedürfnissen, hehe." Auch jahrgangsübergreifendes Eckestehen hat Hindenburg im Repertoire. Inhaltlich sind seine Schwerpunkte das ABC, Herrenvölkerball und der Schrecken des Kommunismus. Das pädagogische Konzept seiner Generation – "Fordern und Fordern" – kommt im Bayerischen Staatsministerium für Unterricht und Kultus sowie auch bei der heimischen Elternschaft bestens an.
Die norddeutschen Bundesländer versuchen hingegen, mittels Quereinsteigern die eklatanten Lücken in den Lehrerzimmern zu füllen. "Bei uns darf jeder ran", versichert Hamburger Bildungssenator Ties Rabe, "genau wie beim Poetry Slam." Der Vorteil: Wer vorher in anderen Branchen tätig war, bringt jede Menge interessante Berufserfahrung mit. Ganz neue, spannende Schulfächer wie "Bergbaukunde" oder "Print-Journalismus" entern so den Lehrplan. Auch ein ganzes Kollegium arbeitsloser Baumschullehrer aus dem Harz konnte bereits integriert werden, "das pädagogische Know-how hatten die ja schon drauf, und mit dem Aufziehen junger Pflänzchen Erfahrung", zwinkert Senator Rabe.
Anreize schaffen, mittels groß angelegter Kampagnen neue Lehrkräfte locken, ob mit Testimonials wie Dr. Specht oder Lehrer Lämpel, ist das Gebot der Stunde. Infobroschüren werben mit pfiffigen Argumenten, um Menschen zum Branchenwechsel zu verführen: "Lust auf mittags frei, #agenturfuzzis?", "Deutsche Frauen, tut es für eurer Volk!" oder im ländlich geprägten Mecklenburg: "Traumjob Lehrer: Mehr Knechte als ein Gutsherr." Wenn nicht gar herrlich frech: "Für die Grundschule reicht's."
Eine Ursache des Lehrermangels: "Die hohe Durchfallquote – vor allem auf den Lehrertoiletten", ächzt eine geplagte Schuldirektorin aus Hannover. Gründe für den hohen Ausfall an Lehrkräften gibt es aber auch andere, zum Beispiel keinen Bock. Deshalb setzt Nordhrein-Westfalen gerade auf auf die Zwangsrückführung abgetauchter Lehrer, welche deutschlandweit etwa 150 000 ausmachen. Razzien in Psychiatrien und Burnout-Kliniken zeigen erste Wirkung, und auf der beliebten Lehrerinsel La Gomera konnte kürzlich ein 47-köpfiger Studienratstrupp beim Nacktwandern dingfest gemacht werden.
In Rheinland-Pfalz wiederum glaubt man an technologische Innovationen. An der Kreidetafel laufen von China inspirierte Experimente mit Mischformen aus Menschen und Lehrkräften aus der tierischen Häschenschule, gern mit Monokel und Frack, sowie mit Androiden. Diese haben integrierte Sprachprogramme. Wichtige Fachausdrücke wie "Ratzefummel" und Gesprächsbausteine wie "Herr Lehrer, geht das? - Natürlich, wenn es Beine hat" oder "Du bist wie ein Kotelett – von beiden Seiten bekloppt" sind bereits einprogrammiert.
Ganz andere Töne vernimmt man dagegen dieser Tage aus Berlin: Dort ist seit Beginn des neuen Schuljahrs vermehrt von tödlichen Badeunfällen die Rede, weil immer weniger Schüler schwimmen können, sowie von unerfreulich verlaufenden Masern-Erkrankungen. Zufall? Oder Teil des neuen Zukunftsplans von Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD)? "Weniger Kinder, weniger Lehrer", heißt es jedenfalls orakelhaft in den geheimen "Papers" ihrer Landesregierung, die in anderen Landesministerien bereits Anklang finden. Das würde auch Adolf-Wilhelm Hindenburg in Oberbayern gefallen: "Die Schwachmatikusse gehören alle ausgemerzt!"
Ella Carina Werner